Die Sekte, das unbekannte Wesen

Werner HoffmannBlog1 Comment

Was ist eigentlich eine Sekte? In Gesellschaften mit einer einzigen dominierenden Ideologie (wie etwa im vorreformatorischen Europa mit der katholischen Kirche) schien die Antwort einfach: alles, was abweicht und deshalb als Bedrohung wahrgenommen wurde. In der heutigen multikulturellen und multi-ideologischen Umgebung ist diese Definition offensichtlich unbrauchbar; dennoch scheint der Begriff unverzichtbar zu sein.

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Etwa 15 Personen befassten sich am 27. August genauer mit diesem Thema. Im Erkerzimmer des Debattierhauses «Karl der Grosse» in Zürich trafen sie sich zum Referat der Psychologin (und Stellenleiterin der Vereinigung infoSekta) Susanne Schaaf mit dem Titel «Im Gespräch mit Menschen mit extremen Einstellungen: Rahmenbedingungen und Herausforderungen». Das Referat wie auch die anschliessende Diskussion waren aufschlussreich und vielschichtig. Dieser kurze Rückblick kann deshalb bei Weitem nicht alle angesprochenen Überlegungen wiedergeben; er stellt eine durchaus subjektive Auswahl des Verfassers dar.

Als Arbeitsdefinition für den Begriff der Sekte kommt am ehesten eine ganze Liste von Eigenschaften in Frage – je mehr davon auf eine Organisation zutreffen, desto eher kann sie als Sekte verstanden werden. Als solche «Sektenmerkmale» können beispielsweise gelten:

  • Straffe, hierarchische Struktur der Organisation bzw. des Netzwerkes
  • Autoritäre Führung durch eine als gottähnlich verehrte Führungsperson
  • Universalrezepte und Machtvorstellungen als Erlösungs- und Heilsversprechen
  • geschlossene Gruppe mit starker Abgrenzung nach aussen
  • Milieukontrolle

Unter den Begriff der «Milieukontrolle» fallen Kontrollmechanismen, die fast alle wichtigen Lebensbereiche umfassen können: Die benutzten Informationsquellen, das persönliche Verhalten, ja sogar Gedanken und Emotionen.

Dass unter solchen Bedingungen irrationale Vorstellungen bis hin zu Wahnideen gedeihen, erstaunt nicht. Viel eher scheint es verwunderlich, dass sich überhaupt Menschen finden, die sich freiwillig in derartige Abhängigkeiten begeben.

Hier kommen mehrere Push- und Pull-Faktoren ins Spiel, die auch als Hinwendungs- und Anziehungsgründe beschrieben werden. Zu den Push-Faktoren zählen vor allem persönliche Probleme, wie Einsamkeit, Orientierungs- und Perspektivenlosigkeit, Unsicherheit, Misserfolge, Langeweile und Krisen; zu den Pull-Faktoren gehören Versprechungen wie Zugehörigkeits- und Sicherheitsgefühl, Anerkennung, schnelle Problemlösung, gemeinsame Aktivitäten, Halt und Orientierung.

Wenn nun komplementäre Push- und Pull-Faktoren zusammentreffen, können derartige Vereinigungen attraktiv erscheinen, und deren Mitglieder sind dann oftmals einer rationalen Diskussion nur schwer oder überhaupt nicht mehr zugänglich.

Der Philosoph Hubert Schleichert analysiert in seinem Buch «Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren» Argumentationsmuster von Ideolog:innen und Fanatiker:innen. Sein Fazit: Ideolog:innen kann man nicht widerlegen, man kann nur versuchen, sie zu verunsichern.

Aber wie setzt man das konkret um? Folgende Leitlinien haben sich bewährt:

  • realistische Erwartungen
  • Gesprächsziel definieren
  • Emotionen rausnehmen
  • sachlich bleiben, aber freundlich und respektvoll
  • nicht provozieren lassen, auf der sachlichen Ebene weitermachen, auf die Kerninteressen konzentrieren
  • positiv argumentieren: statt Gegenargumente zerlegen gute Gründe für eigenen Standpunkt vorbringen
  • Fragen stellen, Motive ergründen
  • Zusammenfassende Rückfragen: «Habe ich Sie richtig verstanden, dass…»

Ganz offensichtlich geht es hier nicht bloss um kurze Gespräche, sondern immer öfter um längere Prozesse. Dies äussert sich auch in der Statistik: Während sich bei den Beratungen der Vereinigung infoSekta noch im Jahre 2010 die Erstanfragen und die Folgekontakte etwa die Waage hielten, gab es 2023 bereits fast doppelt so viele Folge- wie Erstkontakte.

Wenn es erst einmal gelingt, mit Fundamentalisten überhaupt ins Gespräch zu kommen, sind damit aber noch nicht alle Probleme gelöst. Sehr oft trifft man auf Diskussionsformen, die nicht lösungsorientiert sind, wie Strohmann-Argumente, falsche Dilemmata, unbelegte «Dammbruch»-Behauptungen und Ähnliches. Es braucht dann schon einige Kenntnisse und viel Erfahrung, um weiterzukommen. In jedem Falle ist eine motivierende Gesprächsführung wichtig, die dem Gegenüber das Gefühl vermittelt, ernst genommen und verstanden zu werden.

Insbesondere der Umgang mit Widerstand ist ebenso wichtig wie schwierig: Wir alle kennen den ersten Reflex, Widerstände sofort zu bekämpfen; das ist aber fast immer kontraproduktiv. Viel besser ist es, das eigentliche Bedürfnis hinter dem Widerstand zu verstehen und lösungsorientiert anzusprechen.

Und schliesslich: die Klärung der eigenen Positionen ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für ein sinnvolles Gespräch. Wer keine Selbstkritik aufbringt, wer seine Gedanken verabsolutiert und nicht in Bezug zu denjenigen seiner Umgebung setzen kann, wird auch keinen Erfolg damit haben, in einen fruchtbaren Austausch mit Andersdenkenden zu kommen.

Ja, und was ist nun eigentlich mit der Definition einer Sekte? Wie nicht anders zu erwarten, hat auch dieser Abend keine einfache, griffige Antwort geliefert. Dafür aber eine ganze Menge äusserst anregender Denkanstösse, die sehr nützlich sein dürften, um sich mit Menschen zu unterhalten, deren Ideen sich von den eigenen unterscheiden. Also für Psychologen und Kommunikationsexperten? Ja, klar, für die auch. Aber auch für dich, für mich, für uns – kurz: für uns alle.

Vielen Dank an die Referentin für ihren gehaltvollen und ansprechenden Vortrag, sowie auch für die freundliche Überlassung ihrer Präsentationsfolien, die eine sehr willkommene Gedankenstütze für die Abfassung dieses Beitrages bildeten. Wir zitieren hier die von ihr angegebenen Quellen:

Allroggen, Marc (2020). Psychische Störungen im Zusammenhang mit Radikalisierung. Bundeszentrale für politische Bildung (bpb).

Becker, Kim Lisa & Meilicke, Tobias (2024). EXTREM. KOMPETENT. BERATEN. – Methoden für die Beratungspraxis im Themenfeld religiös begründeter Extremismus.
Hrsg. durch das Interdisziplinäre Zentrum für Radikalisierungsprävention und Demokratieförderung e.V. und cultures interactive e.V., gefördert durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Berlin.

Nocun, Katharina & Lamberty, Pia (2020). Fake Facts: Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen. Quadriga Verlag.

Schweizerische Kriminalprävention SKP (Hrsg.) (2024). Staatsverweigerer und Selbstverwalter. Informationen und Hinweise zum Umgang. Bern.

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