Es gibt wichtigere Probleme

Marko KovicBlog2 Comments

Manchmal sollten wir uns Gedanken über wichtigere Probleme machen – manchmal aber auch nicht.

Auf wichtigere Probleme hinzuweisen, ist manchmal nützlich, manchmal aber auch ein Fehlschluss, um einem Argument aus dem Weg zu gehen.

Es gibt oft Situationen, in denen wir (oder auch andere Leute) eine ganz bestimmte Art von Einspruch gegen Vorhaben und Aktivitäten erheben: Wir bekunden unsere Missbilligung dadurch, dass wir erklären, es gebe doch wichtigere Probleme.

Der kritische Hinweis, es gebe wichtigere Probleme, ist ein weitreichendes Argument. Das Vorhaben oder die Aktivität, welche damit kritisiert wird, wird nicht nur teilweise und in gewisser Hinsicht kritisiert, sondern in ihrer Gesamtheit abgelehnt: Das gesamte Vorhaben ist falsch, weil es wichtigere Vorhaben gibt, denen es sich zu widmen gälte. Diese Art von Kritik sitzt tief, denn wenn wir das, was jemand mit Leidenschaft und überzeugung macht, als komplett verfehlt, da zu wenig wichtig, kritisieren, dann üben wir Fundamentalkritik, welche nur bedingt konstruktiv ist. Entsprechend haben wir selber es nicht übertrieben gern, mit dieser Form von Kritik konfrontiert zu werden.

Das Argument, dass ein Vorhaben oder Aktivität mit dem Zweck, bestimmte Probleme zu lösen, falsch sei, weil es wichtigere Probleme gibt, ist nicht ganz einfach einzuordnen. Das Argument kann wahrscheinlich manchmal gültig sein, aber manchmal dürfte es auch unreflektiert als „Totschlagargument“ genutzt werden, um Diskussionen abzuwürgen. Wann sollten wir uns überlegen, ob es wichtigere Probleme gibt – und wann vielleicht nicht?

Vorbemerkungen: Das Universum, wir Menschen, unsere Ziele

Wir Menschen verfolgen ganz vielfältige und sehr zahlreiche Ziele. Das tun wir als Individuen, aber auch in Gruppen, in Organisationen, als Staaten, oder sogar als gesamte Menschheit. Das ist ein grundlegendes Merkmal von uns Menschen, gleichzeitig aber ist es auch unsere Geissel: Die Ziele, welche wir verfolgen, müssen wir uns nämlich auch selber setzen. Das ist recht schwierig. Lange Zeit haben wir Menschen kollektiv geglaubt, dass die übergeordneten Ziele, welche wir verfolgen müssen, von einem oder mehreren Göttern vorgegeben sind. Das war eine bequeme Situation, weil wir dann einfach auf etwas hinarbeiten konnten, ohne selber überlegen zu müssen, auf was wir denn genau hinarbeiten wollen. Der Glaube an gottgebenen Ziele hat sich leider als falsch erwiesen. Die bisherige Evidenz rund um das Universum und unsere Rolle darin deutet darauf hin, dass es so etwas wie Gottheiten, oder, allgemeiner, einen vorgegebenen Sinn im Universum, nicht gibt.

Wenn es keine Gottheiten oder einen übergeordneten Sinn im Universum gibt, müssen wir Menschen selber unserer Existenz einen Sinn geben. Mensch zu sein meint also recht eigentlich, Sinn zu suchen sowie Ziele zu setzen, um diesen Sinn so gut wie möglich zu realisieren. Wie genau der Sinn, nach welchem wir streben und damit die Ziele, welche wir verfolgen, aussehen, ist dabei grundsätzlich vollkommen offen. Wenn ein Mensch beispielsweise zum einzigen Ziel hat, möglichst viele schöne sinnliche Erlebnisse zu haben (z.B. Essen, Trinken, Sex), ist dieses Ziel aus Sicht des Universums völlig legitim – aus kosmischer Sicht gibt es keinen übergeordneten Telos, kein übergeordnetes Ziel oder Zweck, für unsere Existenz. Egal, was für Ziele wir verfolgen – jedes Ziel ist gleichermassen legitim.

Wir Menschen sind ein evolutionäres Zufallsprodukt auf einem kleinen Planeten. Das Universum hat keinen Sinn und keine Ziele für uns.

Im Zuge unserer gesellschaftlichen Entwicklung über die letzten Rund 10’000 Jahre sind wir zwar zum Schluss gekommen, dass es sehr wahrscheinlich keine Gottheiten oder sonstigen Instanzen gibt, welche uns diktieren, was für Ziele wir zu verfolgen haben. Das bedeutet aber nicht, dass wir als Menschheit einfach sinn- und ziellos vor uns hin vegetieren. Eher das Gegenteil ist der Fall, denn die Menschheit hat sich in moralischer und in epistemischer Hinsicht bemerkenswert weiterentwickelt. Das, was unsere Zivilisation ausmacht, ist einerseits der Umstand, dass wir unser gesellschaftliches Miteinander auf eine immer aufgeklärtere und besser begründete moralische Basis stellen. Andererseits sind wir als Zivilisation davon getrieben, die Welt immer genauer und präziser zu verstehen; nicht zuletzt, um dadurch das menschliche Leben angenehmer und weniger stark beeinflusst durch die Brutalität der Natur (Krankheit, Leid, Schmerz, Tod) zu machen.

Wenn wir also darüber sinnieren, was für Ziele wir verfolgen und verfolgen sollen, befinden wir uns in einer eigentümlichen Situation. Einerseits gibt es, aus der Perspektive des „Big Picture“, der Vogelperspektive auf unsere Existenz, gar keine irgendwie besonders erstrebenswerten Ziele – wir sind ein zufälliges Produkt der Evolution auf einem kleinen Planeten, mehr nicht. Andererseits verfolgen wir als Zivilisation eben doch bestimmte übergeordnete Ziele eher als andere, und zwar mit durchaus guten Gründen. Das deutet darauf hin, dass das Argument, es gebe wichtigere Probleme, wahrscheinlich nicht pauschal falsch ist.

Wann wichtigere Probleme wichtig sind

Alles, was wir machen, ist von einem recht mühsamen Umstand gekennzeichnet: Ressourcen sind limitiert. Wir haben nicht unendlich Geld, unendlich Manpower, unendlich Zeit, unendlich Geduld, und so fort. Wenn wir wie auch immer geartete Ziele verfolgen, dann befinden wir uns aufgrund limitierter Ressourcen in einer doppelt schwierigen Situation. Einerseits müssen wir stets überlegen, ob wir das Ziel, welches wir erreichen wollen, nicht effizienter und/oder effektiver erreichen könnten. Andererseits sollten wir uns durchaus auch die Frage stellen, welche Ziele wir eigentlich erreichen wollen.

Eine typische und alltägliche Form, in welcher wir diese Fragen stellen und zu beantworten versuchen, ist demokratische Politik. In einem demokratischen System müssen wir alle, direkt oder indirekt, bestimmen, was für Ziele wir angesichts endlicher Ressourcen erreichen wollen. In diesem Kontext tritt das Argument, es gebe wichtigere Probleme, oft auf. In demokratischen Gesellschaften fördern wir beispielsweise wissenschaftliche Grundlagenforschung, welche vielleicht keinen unmittelbaren praktischen Einfluss auf die Gesellschaft hat. Wenn wir beispielsweise Sonden zu fernen Himmelskörpern wie Monden und Planeten schicken, fragen sich viele Leute, ob es denn nicht wichtigere Probleme gebe, in welche wir die Ressourcen aus der Raumforschung eher stecken sollten. Mögliche wichtigere Probleme in diesem Kontext sind etwa Armut, Kinderausbeutung, Hunger.

Wäre es wichtiger, Hunger und Elend zu beseitigen, bevor wir uns Zielen wie der Weltraumforschung widmen?

In solchen Situationen sollten wir die Anliegen der Kritikerinnen und Kritiker ernst nehmen und nicht hämisch oder ablehnend reagieren. Es ist nämlich gar nicht so offensichtlich, wie wir als Gesellschaft Ziele priorisieren können und, was die effektivsten Massnahmen sind, um Probleme zu lösen. Wenn wir beispielsweise das Ziel verfolgen, Kinderarmut zu reduzieren, kann es sein, dass die Ressourcen, welche in Raumforschung investiert werden, gar keinen Einfluss auf die Erreichung dieses Ziels hätten, würden wir sie in die Bekämpfung von Kinderarmut stecken. Vielleicht aber kann ein Diskurs darüber, welche Probleme grundsätzlich wie wichtig sind, dazu führen, dass wir Ressourcen, welche wir bereits für das Ziel der Bekämpfung der Kinderarmut einsetzen, besser einsetzen. Ein Diskurs über die gesellschaftliche Zielsetzung kann auch helfen, von Zielen, welche wir tatsächlich ohne gute Gründe verfolgen, zugunsten erstrebenswerterer Ziele abzusehen. Die genauen Kritieren, anhand derer wir bestimmen, welche Ziele erstrebenswert sind, sind dabei auch Teil des demokratischen Aushandlungsprozesses. Eine Reduktion auf Ziele etwa, welche moralisch eine Minimierung von Leid in der Welt sowie epistemisch eine Maximierung zuverlässigen Wissens über die Welt anstreben, dürfte sowohl zu abstrakt und praxisfern wie auch zu eingeschränkt sein.

Wann „wichtigere Probleme“ ein Fehlschluss bzw. ein rhetorischer Trick sind

Wichtigere Probleme gibt es und wir sollten uns über unsere Ziele Gedanken machen. Bedeutet das, dass die Kritik, es gebe wichtigere Probleme als jenes, welches mit einem bestimmten Vorhaben angegangen wird, immer gültig ist? Nein: Das „wichtigere Probleme“-Argument hat bisweilen die Eigenschaften eines Fehlschlusses.

Manchmal gefällt uns nicht, was andere machen. Wenn wir keine guten Argumente für unsere Position haben, greifen wir gerne zum “wichtigere Probleme”-Fehlschluss.

Das „wichtigere Probleme“-Argument ist meistens dann ein Fehlschluss, wenn wir damit ein Ziel, welches Individuen, Gruppen, Organisationen oder sogar Staaten verfolgen, nicht ernsthaft kritisieren, sondern einfach zum Ausdruck bringen, dass wir mit dem Ziel nicht einverstanden sind. Wenn wir also ein Vorhaben oder Aktivität einfach nicht gut finden, aber keine Argumente für unsere Position vortragen können, ist das „wichtigere Probleme“-Argument eine geeignete Ersatzhandlung. Der „wichtigere Probleme“-Fehlschluss ist besonders dann wahrscheinlich, wenn die Ziele privater Individuen und Organisationen kritisiert werden, bei denen nur private und keine öffentlichen Ressourcen eingesetzt werden. Wenn ich beispielsweise eine Tierschutzorganisation mit dem Argument, es gebe doch wichtigere Probleme, kritisiere, nur weil ich das Ziel der Organisation nicht billige, handle ich in mehrfacher Hinsicht irrational:

  • Ich definiere die wichtigeren Ziele bzw. die Kriterien zur Zielbestimmung nicht.
  • Ich kritisiere nur eine spezifische Organisation, die sich nicht den „wichtigeren Problemen“ widmet, aber alle anderen Organisationen, welche sich ebenfalls nicht diesen „wichtigeren Problemen“ widmen, kritisiere ich nicht.

Wenn wir den „wichtigere Probleme“-Feschluss begehen oder damit konfrontiert werden, ist eine passende Reaktion, im Mindesten diese zwei Punkte zur Klärung vorzuschlagen. Damit wird der Fehlschluss rasch als solcher entlarvt.

Das „wichtigere Probleme“-Argument als Kritik an spezifischen Vorhaben oder Aktivitäten muss nicht immer ein Fehlschluss sein. Es könnte beispielsweise sein, dass dadurch, dass wir uns Problem A widmen die Wahrscheinlichkeit senkt, dass sich jemand dem wichtigeren Problem B widmet. Solche Konstellationen sind allerdings sehr unwahrscheinlich und sie wären konkret zu begründen.

Fazit: Ziele sind wichtig, aber nicht jede Kritik an Zielen ist gut

Wir sollten, ganz allgemein, Ziele verfolgen, welche es sich mit guten Gründen zu verfolgen lohnt. Der Debatte über die Wichtigkeit von Zielen und Problemen sollten wir uns möglichst immer stellen, denn nur in der Debatte können wir uns darauf einigen, wie wir bestimmen können, welche Ziele wie wichtig sind. Das bedeutet aber nicht, dass das „wichtigere Ziele“-Argument immer gut ist. Wenn mit diesem Argument ein spezifisches Vorhaben oder Aktivität kritisiert wird, aber ohne genauere Begründung warum, handelt es sehr wahrscheinlich um einen Fehlschluss.

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2 Comments on “Es gibt wichtigere Probleme”

  1. Das ist ja das Schöne am Mensch sein, zumindest darf man in unseren Breitengraden noch frei heraussagen, was es aus unserer Wichtigeres gäbe. Ob dies auch mit unserer Politik und unserem Rechtsstaat zusammenpasst ist eine andere Frage. Denn es ist nicht alles legitim was wir als wichtig empfinden.

    Der Mensch als solches ist ja bekanntlich ein Herdentier und es befinden sich etliche Menschen auf diesem Planeten, welche gar keine eigene Meinung haben können oder haben werden. Einfach weil halt der Intellekt nicht ganz ausreichend ist.
    Meiner Meinung nach wäre es dringend wichtig, dass sich jeder eine eigene Meinung bilden könnte, dies würde die Vielfalt von „Das wäre doch nun wichtiger“ enorm auf die Spitze treiben, denn wo eine eigene Meinung ist, da ist auch eine grosse Möglichkeit.

    Da jeder Mensch also das „Wichtige“ für sich selber definiert, wird es schwierig sein, immer und zu jeder Zeit auch die beste Option für alles und jeden herauszuholen. Und als Mensch darf man Fehler oder auch Fehlentscheidungen machen.

    Priska

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