Tagesanzeiger-Online hat am 18. Mai einen mit «Wo die ethnische Vielfalt am höchsten ist» Artikel veröffentlicht, in welchem die Ergebnisse einer Studie zum Zusammenhang zwischen ethnischer Vielfalt, Wirtschaftswachstum und «Qualität der Regierung» besprochen werden:
Bei der betroffenen Studie handelt es sich um «Fractionalization» aus dem Jahre 2002, und löblicherweise wird im Tagi-Artikel auf sie verwiesen. Auch zitiert der Tagi-Artikel löblicherweise einen Artikel der Washington Post, der als Inspirationsquelle diente. Damit ist der Bestand an Lobenswertem in diesem Tagi-Artikel leider schon erschöpft.
Ist blindes Abschreiben «moderner» Journalismus?
Ich muss gestehen, dass ich jedes Mal ein angenehmens Kribbeln im Bauch spüre, wenn in den Massenmedien über sozialwissenschaftliche Forschung berichtet wird. Die Wissens-Ressorts bei Zeitungen und Rundfunk behandeln eher, so mein Eindruck, naturwissenschaftliche Themen – was vielleicht durchaus seine Richtigkeit hat. Auf jeden Fall dürfte eine jede und ein jeder mit sozialwissenschaftlichen Hintergrund Freude haben, wenn ab und zu auch Forschung aus sozialwissenschaftlichen Disziplinen wahrgenommen und diskutiert wird.
Und der Tages-Anzeiger kleckert hier nicht: Es wird eine Studie besprochen, die nicht weniger verspricht, als die Welt (oder zumindest die knapp 190 untersuchten Länder) zu erklären!
Doch die Lektüre schon des ersten Absatzes irritiert ein wenig. So heisst es zunächst:
Forscher der Harvard University sind in einer Studie aus dem Jahr 2002 der Frage nachgegangen, in welchen Ländern der Welt am meisten Ethnien leben – und womit eine grosse Vielfalt zusammenhängt. Dafür mussten sie zunächst eine Fülle bestehender Daten vergleichen.
So weit, so verständlich: Die Autoren der Studie mussten für das ambitionierte Projekt auf bestehende Daten zurückgreifen. Anschliessend steht im Tagi-Artikel aber Folgendes:
Wie Menschen ihre eigene Ethnie und jene anderer wahrnehmen, ist jedoch schwierig zu messen, weil dieses Empfinden subjektiv ist. Die Forscher entschieden sich daher für die Berücksichtigung der individuell wahrgenommenen ethnischen Zugehörigkeit. Massgebend war damit, welcher Ethnie die Menschen weltweit sich selbst zuordneten – und nicht, in welcher Volksgruppe sie von Aussenstehenden verortet wurden.
Also hat das Forscherteam doch eigene Daten erhoben, und zwar Befragungsdaten? Oder waren die bestehenden Daten, welche für die Studie zusammengeführt wurden, schon Befragungsdaten? Auf Seite 6 werden die Datenquellen für die Berechnung der «ethnic fractionalization» beschrieben:
Für die Fälle Frankreich, Isreal, Vereinigte Staaten und Neuseeland haben die Forscher Daten aus Volksbefragungen konsultiert – in nur vier der untersuchten Staaten also.
Auf Seite 31, wo der Index «ethnolinguistic fractionalization» beschrieben wird, ist keine Rede von Selbsteinschätzung:
Schon in den ersten paar Sätzen also steht im Tagi-Artikel etwas, was die eigentliche Studie grob verzerrt. Hat die Autorin des Artikels, Raphaela Birrer, die Herkunft der Daten in der Studie missverstanden? Nicht wirklich, denn sie hat diesen Fehler schlicht aus obengenanntem Artikel der Washington Post übernommen:
Because data sources such as censuses or surveys are self-reported – in other words, people are classified how they ask to be classified – the ethnic group data reflects how people see themselves, not how they’re categorized by outsiders. Those results measured 650 ethnic groups in 190 countries.
Ein bisschen verwundert reibe ich mir die Augen: Das wird wohl nur ein Detail sein, welches im Tages-Anzeiger unreflektiert übernommen wurde, oder? Weit gefehlt:
Angesichts dieser grotesken Beispiele wollte ich zunächst eine Barrage an Google Translate-Witzen losfeuern. An der Angelegenheit ist aber wenig Lustiges: Der Text der Washington Post ist nicht einfach annähernd 1:1 übersetzt, sondern weist kleinere Abweichungen auf, welche auf eine bewusste, kreative Tätigkeit der Autorin hinweisen. Dass diese kreative Energie nicht in das Lesen der betroffenen Studie gesteckt wurde, erschüttert mich zweifach. Einerseits kann ich nicht nachvollziehen, was für ein journalistisches Selbstbild hinter solch einer Copy-Paste-Schludderei steht. Andererseits hat die betroffene Autorin «Publizistik, Politologie und Geschichte an der Uni Zürich» studiert. Ich kann mir fast keine bessere Fächerkombination vorstellen, um eine solche Studie voller Neugier und kritischem Interesse zu analysieren – und stattdessen wird ein stinkender Copy-Paste-Erguss aufgetischt.
Die Studie
Zur Studie selber möchte ich keine grossen Worte verlieren. Es handelt es sich um einen sehr einflussreichen (d.h. vielzitierten) Text, welchen die Autoren durchaus auch hinreichend mit Verweisen auf die bedingte Aussagekraft der von ihnen gemessenen Korrelationen (genauer arbeiten sie weitgehend mit Regressionen, was aber letztlich nichts weiter als ein Zusammenhangsmass, also eine Korrelation, ist) versehen haben.
Diese und viele ähnlich aufgebaute Studien erachte ich aber als bestenfalls von explorativem Wert. Solche von Ökonomen durchgeführte Studien neigen dazu, ausgesprochen «empiristisch» zu sein: Es werden (teils durchaus beachtliche) Daten nach Korrelationen durchforstet, ohne wirkliche Erklärung, warum das, was gemacht wird, gemacht wird, was also die theoretischen Begründungen für das empirische Vorgehen sind.
Sozialwissenschaftliche Forschung steht und fällt mir der lückenlosen theoretischen Herleitung und Begründung der Konzepte, welchen man empirisch nachgehen will. Anders als in den Naturwissenschaften sind praktisch alle Phänomene der Sozialwissenschaft konstruierte Konzepte, und es wird versucht, sie anhand empirischer Indikatoren dingfest zu machen. Ein solches Konzept ist Ethnizität, welchem sich die Autoren der Studie mit «ethnic fractionalization» annähern (S. 5):
Eine Aufteilung in eher anatomische und eher linguistische Indikatoren scheint auf den ersten Blick einleuchtend (wenn auch die Studie nicht biologisch korrekt auf genetische Gemeinsamkeiten und Unterschiede unterschiedlicher Gruppen als «Rassen»-Indikator rekurriert, sondern tradierte Einteilungen übernimmt). Etwas verwirrender gestaltet sich ein Blick auf die Indikatoren, welche die «Qualität der Demokratie» messen sollen. Einige der Indikatoren sind folgende:
Wenn postuliert wird, dass höhere Steuern, eine höhere Staatsquote, eine höhere Anzahl staatlich Angestellter, grösserer Anteil von Staatsbetrieben an der Wirtschaftsleistung, mehr Subventionen und Sozialausgaben allesamt Anzeichen für weniger Demokratie seien, liegt ein sehr spezifisches Bild von Demokratie vor. Das darf es durchaus – nur muss diese normative Basis maximal offengelegt und rational begründet, und nicht als gegeben gesetzt werden. Wenn nämlich die normative Grundlage der empirisch zu messenden Konzepte nicht mehr aktiv diskutiert wird, geschieht der Fehlschluss der Reifikation: Die verhägnisvolle Illusion, dass die normativen Konzepte in unseren Köpfen einer objektiven, physischen Realität entsprächen.
Fazit
Die Studie zum Zusammenhang von ethnischer Vielfalt, Wirtschaftswachstum und Demokratie ist eine beachtliche Arbeitsleistung und stellt nicht unwichtige Fragen, ist aber letztlich, so paradox das klingen mag, viel zu unterkomplex: Es werden zwar viele Staaten untersucht, aber nur anhand sehr grober Daten, nur als Querschnitt (kein zeitlicher Verlauf), und ohne theoretische Einbettung.
Es wäre schön, würde sich der Tages-Anzeiger einer kritischen Reflexion solcher und anderer Studien widmen, anstatt die redaktionelle Eigenleistung auf Copy-Paste-Wiederkäuen zu beschränken.
2 Comments on “Ethnische Vielfalt und journalistische Einfalt”
Weil es noch immer nicht korrigiert wurde:
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PS – Schaut mal euer CMS genau an… das kommt bei euch ja andauernd vor (manchmal bemerkt ihr es einfach etwas schneller) – irgendwo habt ihr eine falsch gewählte Einstellung.
Ciao raskalnikow
Merci für den Hinweis – das schauen wir uns nochmals genauer an!
Bester Gruss
Marko