Gentechnik Teil 1: Was auch ohne menschliche Eingriffe geschieht

Jean-Marc NeuhausBlog, Wissenschaftliche Methodik1 Comment

Dies ist Teil 1 von 4 der Gentechnik-Serie Alte und neue Gentechnologien im Vergleich.

Zusammenfassung

  • Eltern vererben ihren Kindern je einen vollständigen Chromosomensatz, eine Version des Genoms der Art. Diese zwei Kopien unterscheiden sich an vielen Stellen. In einer grossen Population gibt es also eine grosse genetische Diversität.
  • Mutationen sind die Ursachen dieser genetischen Diversität. Sie geschehen in allen Zellen und werden zum Teil vererbt. Sie ermöglichen eine natürliche oder künstliche Selektion und damit die Evolution der Arten.
  • Die häufigsten Mutationen sind Punktmutationen, wobei nur ein Buchstabe (A, T, C oder G) der DNA ausgetauscht wird. 
  • Häufig sind auch Chromosomenbrüche, die meistens fehlerhaft repariert werden, wobei einige Buchstaben verlorengehen oder hinzukommen können, was eine «Narbe» hinterlässt.
  • Die meisten Mutationen haben keine Konsequenzen, da sie ausserhalb der Gene oder ihrer Kontrollregionen geschehen. Manche Mutationen haben negative Konsequenzen, besonders wenn sie von beiden Eltern vererbt werden. Seltenere Mutationen bringen einen Vorteil und können sich durch Selektion in einer Population durchsetzen.
  • Grössere Regionen mit einem oder mehreren Genen können verloren gehen. Es können aber auch neuen Segmente eingefügt werden. Diese können von einem anderen Chromosom kommen (mobile Elemente) oder aus anderen Organismen stammen (natürliche Transgenese). Auch dies ist meistens harmlos.

Individuelle Genome sind alle verschieden

Es gibt kein prototypisches menschliches Genom, sondern jedes Individuum (ob Pflanze, Tier oder Mensch) hat zwei Versionen: je eine Version wurde vom Vater und von der Mutter geerbt. Sie unterscheiden sich voneinander an Tausenden Stellen. 

Die Selektion neuer Pflanzensorten oder Tierrassen braucht solche genetischen Unterschiede zwischen Individuen, unter denen man die besten auslesen kann. Diese Erkenntnis hat Darwin und Wallace dazu gebracht, ihre Theorie der Evolution durch natürliche Selektion zu entwickeln. Durch spontane Mutationen in Individuen entstehen laufend neue genetische Varianten, die ihren Nachkommen vererbt werden können.

Um die aktuell diskutierten Neuen Gentechnologien besser zu verstehen, ist es nützlich, zuerst über die spontanen Veränderungen zu reden.

Vererbung bei sexueller Vermehrung

Bei der sexuellen Reproduktion werden von den elterlichen Chromosomenpaaren je eins an das Kind vererbt. Bei der nächsten Generation passiert das Gleiche. Allerdings werden dabei Chromosomenteile ausgetauscht, so dass die Enkelkinder Chromosomen erhalten, die aus Teilen der Chromosomen der vier Grosseltern bestehen.

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Bild 1. Sexuelle Fortpflanzung
Jedes Kind bekommt ein Chromosomensatz der Mutter und eins des Vaters. Da bei der Produktion der Keimzellen die Chromosomen Teile ausgetauscht haben, bestehen die Chromosomen des Kindes aus Teilen der Chromosomen der vier Grosseltern. In diesem Schema sind jeweils nur zwei Chromosomenpaare dargestellt.

Spontane Mutationen

Die genetischen Unterschiede entstehen durch Mutationen. Davon gibt es mehrere Arten:

  • Punktmutationen: Ein Buchstabe (A, C, G oder T) wird durch einen anderen ersetzt. Dies geschieht häufig während des Kopierens der Chromosomen vor der Zellteilung, kann aber auch sonst spontan geschehen oder durch chemische Einwirkung (Stoffwechselprodukte unserer Zellen, Naturstoffe aus der Nahrung, Rauch, etc.) oder durch radioaktive oder UV-Strahlung.

    ACGGTCTAAGTGCAGGAATC → ACGGTCTAAGTGTAGGAATC
  • Kleine Insertionen oder Deletionen (plus oder minus ein paar Buchstaben). Diese „Indels“ sind häufig Narben der fehlerhaften Reparatur eines Chromosomenbruchs nach chemischer Einwirkung oder Strahlung (Röntgen, natürliche radioaktive Strahlung von Kalium oder Radon)

    Insertion CGGTCTAAGTGCAGGAA → CGGTCTAAGTGCGAAATCAGGAA
    Deletion CGGTCTAAGTGCAGGAA → CGGTCTAAGTGCAGGAA
  • Grosse Insertionen von mobilen Elementen aus dem eigenen Genom, von Viren oder anderer Fremd-DNA (natürliche Transgenese, „horizontaler Gentransfer„). Die Insertion erfolgt an einem zufälligen Ort und kann also auch ein Gen blockieren oder beschädigen.
  • Grosse Deletionen, wobei ein oder mehrere Gene verloren gehen können.

Spontanmutationen geschehen in allen Zellen von Pflanzen und Tieren. Mit dem Alter unterscheiden sich unsere Körperzellen genetisch immer mehr. In einzelnen Zelllinien können sich negative Mutationen anhäufen, bis eine Zelle zur Krebszelle wird und einen Tumor startet. Die meisten Mutationen haben keine Konsequenzen, da sie ausserhalb der Gene und ihrer Kontrollregionen passieren. Manche Mutationen haben erst dann eine negative Konsequenz, wenn sie von beiden Eltern vererbt werden. Selten hat eine Mutation eine positive Konsequenz und kann dann durch natürliche oder künstliche Selektion angereichert werden. 

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Bild 2. Zufällige Mutationen
Eltern vererben jedem Kind ein paar neue Mutationen auf jedem Chromosom. Über Generationen summieren sich diese Mutationen.

Wir Menschen vererben jedem Kind ca. 100-200 Punktmutationen und 5-10 Indels, seltener Insertionen von mobilen Elementen. Circa drei dieser Mutationen sind möglicherweise negativ. Bei der heutigen Erdbevölkerung wird wahrscheinlich jeder Buchstabe des menschlichen Genoms mindestens einmal pro Generation mutiert weitervererbt. Bei einer Genomlänge von ca. 3.2 Milliarden Basen hat man bisher über eine Milliarde (!) Punktmutationen oder Indels identifiziert, die bei einem Teil der Menschen, manchmal nur bei wenigen vorkommen. Sie ermöglichen z.B. die Herkunfts- und Verwandtschaftsforschung oder die forensische Identifikation eines Opfers oder Verbrechers. Auch der Weizen vererbt bei jeder Generation ca. 100 neue Mutationen weiter. Auf ein paar Hektaren Weizen ist jede einzelne Position im Genom mindestens einmal mutiert. Weizen wurde seit 12’000 Jahre gepflanzt und wurde 2021 auf 220 Millionen Hektaren kultiviert. Jede denkbare Punktmutation ist also schon ohne menschliche Einwirkung sehr häufig passiert!

Natürliche Transgenese

Gene werden in der Natur manchmal von einer Art auf eine andere übertragen. Dazu gehören Viren, die ihr Genom in das Genom des Wirts einfügen. Da einige dieser Viren, die Retroviren, ihr Genom weiterkopieren und anderswo in der gleichen Zelle einsetzen, besteht 9% unseres Genoms aus Virensequenzen. Durch Genomsequenzierung hat man aber in vielen Tier- und Pflanzenarten noch andere Gene entdeckt, die von einer anderen Art gekommen sein müssen.

Viele Pflanzen werden von Agrobakterien infiziert und genetisch manipuliert. Sie führen Gene in Pflanzenzellen ein, um Tumoren oder Wurzelwucherungen zu bilden, von denen sie sich dann füttern lassen. Die Gene werden dabei irgendwo ins Genom eingesetzt. Manchmal entsteht aus einem Tumor wieder eine normale Pflanze, die dann die bakteriellen Sequenzen weitervererbt. So sind viele unserer Kulturpflanzen natürliche transgene Pflanzen: Süsskartoffel, Erdnuss, Kastanie, Heidelbeere, Grapefruit, Tee, etc.

Mobile Elemente wurden auch zwischen sehr verschiedene Tierarten wie Wasserschnecke, Raubwanze, Eidechse, Frosch, Opossum, Fledermaus und diverse Affen übertragen. Die Überträger waren wahrscheinlich parasitäre Würmer. Auch unsere mobilen Elemente sind wahrscheinlich irgendwann von anderen Organismen übertragen worden, und auch wir sind deshalb natürliche transgene Organismen.

Manchmal werden Mutationen direkt sichtbar, etwa wenn ein mobiles Element von einem Gen wegspringt, das für die Farbproduktion nötig ist, und das dann wieder aktiv wird. Das kann man bei Blüten von Petunien, Löwenmäulchen, Prunkwinden oder Wunderblumen, aber auch bei Ziermais bewundern (Bild 1). Bei jedem Wegsprung landet das mobile Element an einem zufälligen neuen Ort, produziert also eine neue Mutation. Andere mobile Elemente bleiben an ihrem Platz, produzieren aber Kopien, die auch irgendwo landen. 

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Bild 3. Sofort sichtbare Mutationen
In Ziermais und in der Wunderblume blockiert ein mobiles Element ein Gen, das für die Farbproduktion nötig ist. Wenn das Element wegspringt, wird Farbe wieder produziert. Jeder Streifen, jeder Flecken kommt von einem unabhängigen Wegsprung. Das Element ist jedes Mal an einem anderen (unbekannten) Ort im Genom gelandet und hat also eine neue Mutation verursacht.

Diese mobilen Elemente vermehren und verstreuen sich so in den Wirtszellen. Sie füllen 40% des menschlichen Genoms. Blütenpflanzen haben Genomgrössen, die sich bis zu tausendfach unterscheiden, obwohl sie alle ähnlich viele Gene haben. Das liegt daran, dass diese mobilen Elemente zwischen 3% und über 95% ihres Genoms einnehmen. Auch bei Tieren gibt es Riesenunterschiede: ein Pufferfisch hat nur ein Achtel so viel DNA wie ein Mensch, ein Lungenfisch hingegen 40-mal so viel.


Zum Autor Jean-Marc Neuhaus

  • 1982 Dr. phil. in Biochemie, Biozentrum Basel
  • Seit 1984 Pflanzen-Zell- und Molekularbiologe
  • 1995-2018 Professor für Biochemie und Molekularbiologie, Universität Neuchâtel

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