Ärzte, die nicht an Homöopathie glauben, verschreiben sie manchmal trotzdem. Das ist ein ethisches Problem – auch, wenn sie es gut meinen.
In einer im Oktober 2017 veröffentlichten Studie wurde untersucht, wie und in welchem Masse Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz Homöopathie verschreiben1. Ein Befund der Studie ist, dass ein Teil der Ärztinnen und Ärzte, welche Homöopathie verschreiben, selber gar nicht an die Wirksamkeit der Homöopathie glaubt.
Die genaue Motivstruktur bei solchen Ärztinnen und Ärzten kennen wir nicht. Die genauen Gründe, warum sie Homöopathie verschreiben, obwohl sie selber nicht daran glauben, können vielfältig sein. Sehr wahrscheinlich handeln die meisten Ärztinnen und Ärzte in hehrer Absicht: Sie glauben, dass sie durch das Verabreichen von Homöopathie moralisch akzeptabel handeln, weil sei den Patienten helfen.
Die Frage, ob es moralisch rechtfertigbar ist, Placebos zu verschreiben, ist nicht neu2 3. Wenn das Placebo, um welches es geht, Homöopathie ist, verschärft sich diese Problematik allerdings: Homöopathie ist nicht einfach ein beliebiges Placebo, sondern eine über 200 Jahre alte alternativmedizinische Lehre, welche nach heutigem Kenntnisstand sowohl theoretisch unplausibel wie auch empirisch unwirksam ist4. Um moralisch einschätzen zu können, ob Homöopathie als Placebo tragbar ist, ist es nötig, diese Fragestellung ethisch auszuleuchten. In der Ethik, der rationalen Analyse moralischer Probleme, gibt zwei dominante ethische Denkschulen, die Deontologie und den Konsequenzialismus5. Deontologie wird bisweilen als Pflichtenethik beschrieben, weil deontologische Überlegungen in der Annahme gründen, dass wir aufgrund unserer individuellen Freiheit und Autonomie zu bestimmten Handlungen oder der Unterlassung bestimmter Handlungen verpflichtet sind. Bei der konsequenzialistischen Denkschule hängt der moralische Status von Handlungen nicht von Pflichten, sondern von den Folgen, also von den Konsequenzen unserer Handlungen ab.
Homöopathie als Placebo hat aus deontologischer Sicht einen anderen Status als aus konsequenzialistischer. Ultimativ aber ist Homöopathie als Placebo aus beiden Perspektiven moralisch nicht akzeptabel.
Deontologische Sicht: „Informed Consent“
Ein zentraler ethischer Pfeiler der modernen Medizin ist das Prinzip des „Informed Consent“6 7: Patienten sollen offen, transparent und vollständig informiert werden, damit sie anhand einer möglichst vollständigen Informationslage Entscheidungen wohlüberlegt treffen können. Das bedeutet, dass Ärzte fundamental ehrlich sein müssen und ihre Patienten nicht bevormunden sollen. Auch, wenn Ärztinnen und Ärzte glauben, dass sie ihren Patienten helfen, indem sie sie täuschen, müssen sie gemäss dem Informed Consent-Paradigma kategorisch darauf verzichten.
Der Einsatz von Placebos ritzt am Prinzip des Informed Consent. Wenn ein Arzt ein Placebo verschreibt und ganz spezifische Wirksamkeits-Behauptungen erfindet, dann täuscht er seine Patienten. Placebos können grundsätzlich aber auch eine solche Art eingesetzt werden, dass die Patienten nicht aktiv getäuscht werden8. Wenn mit der Verabreichung von Placebos keine konkreten Wirksamkeitsversprechen gemacht werden, dann ist das Vorgehen zwar paternalistisch9, aber nicht aktiv täuschend.
Die deontologische Situation rund um Informed Consent ändert sich, wenn das Placebo, welches zum Einsatz kommt, Homöopathie ist. Es ist durchaus möglich, dass Ärztinnen und Ärzte Homöopathie mit guter Absicht als nur paternalistisches Placebo ohne aktive Täuschung einsetzen. Das Problem dabei ist, dass Homöopathie eine ideengeschichtlich und praktisch unabhängige alternativmedizinische Lehre ist, welche explizite und unmissverständliche Wirksamkeitsbehauptungen macht. Wenn also ein Arzt Homöopathie verschreibt, ohne explizite Wirksamkeitsversprechen abzugeben, tut er dies impliziterweise trotzdem, weil Homöopathie als Lehre explizit mit zahlreichen Wirksamkeitsbehauptungen in Verbindung steht. Der Einsatz von Homöopathie als Placebo ist aus der Informed Consent-Perspektive darum nicht akzeptabel.
Was aber, wenn eine Ärztin oder ein Arzt Homöopathie als Placebo einsetzt, dabei aber verheimlicht, dass die Kügelchen, welche verschrieben werden, Homöopathie sind? Ist die Informed Consent-Problematik damit gelöst? Nein, sie verschärft sich sogar: Wenn ein Arzt Homöopathie als Placebo einsetzt und dabei aktiv verheimlicht, dass es sich um Homöopathie handelt, begeht er einen Akt der expliziten Täuschung.
Konsequenzialismus 1: Unmittelbarer Utilitarismus
Die wohl bekannteste konsequenzialistische Perspektive ist der sogenannte Utilitarismus. Utilitaristische Ethik postuliert, dass eine Handlung dann moralisch gerechtfertigt ist, wenn mit ihr das Glück für möglichst viele Menschen maximiert wird. In der Lesart des ebenfalls sehr verbreiteten negativen Utilitarismus10 ist das Ziel, welches verfolgt wird, Leid für möglichst viele Menschen zu minimieren. Der Utilitarismus spielt in der Medizin eine wichtige Rolle. So beruht etwa das Prinzip der medizinischen Triage auf der utilitaristischen Überlegung, dass in Entscheidungssituationen mit begrenzten Ressourcen so vorzugehen ist, dass der Nutzen der medizinischen Interventionen maximiert wird11.
Aus einer unmittelbar utilitaristischen Perspektive ist der Einsatz von Homöopathie als Placebo dann gerechtfertigt, wenn damit der angestrebte Nutzen erreicht wird. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Homöopathie als Placebo das Ziel, welches erreicht werden soll, tatsächlich auch erreichen kann: Weniger Leid in der unmittelbaren Behandlungssituation. Ärztinnen und Ärzte verschreiben Homöopathie dann als Placebo, wenn sie glauben, dass ein Placebo in der konkreten Situation die effektivste oder zumindest eine effektive Massnahme ist.
Konsequenzialismus 2: Folgeschäden
Homöopathie als Placebo ist aus einer unmittelbar utilitaristischen Perspektive moralisch akzeptabel, denn dadurch, dass die Patienten die homöopathischen Mittel zu sich nehmen, kann ihr unmittelbares Leid gemindert werden. Das sind aber nicht die einzigen Konsequenzen, welche Homöopathie als Placebo nach sich zieht.
Das Anwenden von Homöopathie hat eine unerwünschte Konsequenz: Dadurch, dass Patienten in Kontakt mit Homöopathie kommen, ensteht das Risiko, dass sie auch dann Homöopathie nutzen, wenn wissenschaftlich gesehen wirksame Arzneimittel und sonstige Behandlungen notwendig sind12 13 14. Ein Bereich, in welchem sich dieses Risiko äussert, sind Impfungen. Wenn beispielsweise Eltern an Homöopathie glauben und Homöopathie nutzen, dann sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihre Kinder impfen lassen15 16 17 18. Utilitaristisch gesehen kann Homöopathie als Placebo zwar einen kleinen positiven Impact haben, indem unmittelbares Leid gemindert wird. Der potenzielle mittelfristige negative Impact, welcher damit aber geschaffen wird, also das Leid infolge der Nicht-Nutzung wirksamer wissenschaftlicher Interventionen, übersteigt den positiven Impact. Darum ist Homöopathie als Placebo, utilitaristisch gesehen, moralisch nicht akzeptabel, weil damit das Risiko eingegangen wird, einen beträchtlichen Netto-Schaden zu verursachen.
Fazit: Homöopathie als Placebo ist moralisch nicht haltbar
Homöopathie als Placebo ist moralisch nicht akzeptabel. Aus einer deontologischen ethischen Sicht stellt Homöopathie als Placebo einen Verstoss gegen das Prinzip des Informed Consent dar. Aus einer konsequenzialistischen ethischen Sicht kann Homöopathie als Placebo zwar unmittelbares Leid reduzeren, aber nur mit dem Risiko, damit mittelfristig deutlich grösseres Leid zu verursachen. Es gibt keine rationalen moralischen Argumente für Homöopathie als Placebo.
Es gibt keine rationalen moralischen Argumente für Homöopathie als Placebo.
Es ist nachvollziehbar, dass Ärztinnen und Ärzte in Behandlungssituation bisweilen zum Schluss kommen, dass ein Placebo die effektivste Massnahme ist, um Leid zu minimieren. Es gibt aber keine guten Gründe, warum das Placebo, welches in einer solchen Situation zur Anwendung kommt, Homöopathie sein soll: Andere Placebos können sowohl das Informed Consent-Prinzip (mehr oder weniger) aufrechterhalten wie auch unmittelbares Leid reduzieren, und zwar ohne das Risiko, mittelfristig mehr Leid zu verursachen als reduziert wurde.
References
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7 Comments on “Ist es moralisch haltbar, Homöopathie als Placebo zu verschreiben?”
Das gehört eigentlich in den Bereich Religionsfreiheit. Wir können Religionen auch nicht verbieten, obwohl sie unsinnig sind.
Wobei: Die moralische Schlussfolgerung ist nicht, dass Homöopathie verboten werden muss, sondern, dass Ärzte Homöopathie nicht als Placebo verschreiben sollen. Die „Religionsfreiheit“ bleibt also gewahrt :).
Wenn der Patient sich bewusst ist, wie leicht er beeinflusst werden kann, dann kann die (nicht homöopathische) Placebo-Abgabe mit vermeintlicher Wirkung durchaus nicht als paternalistisch betrachtet werden. Diese Abmachung zwischen Arzt und Patienten kann ja auch stillschweigend erfolgt sein. Das Problem ist dabei, dass der Arzt den Patienten kennen sollte und umgekehrt. Das ist wohl heute eher nicht der Fall. Kurz gesagt: der aufgeklärte Patient wäre sicher bereit, ein solches Experiment einzugehen.
Veto ! 😉 – Jede verpasste (notwendige) Behandlung mit echter Substanzwirkung hat das Potential, dem Patienten durch Unterlassung zu Schaden. Da steht die Homöapathie nicht allein da, sondern ist bester Gesellschaft mit Hausmitteln, Wickeln, Hand auflegen, gutem Zuspruch, Kerzen anzünden und vielem anderen mehr. Allesamt sehr mächtige Methoden, die Selbstheilung zu unterstützen.
Die ärztliche Kunst ist es also, den Zeitpunkt des (echten) Eingreifens nicht zu verpassen. – Das hat aber nichts damit zu tun, auf welche Art man das optimistische Zuwarten und Begleiten gestaltet. Der Homöopathie einseitig anzulasten, dass sie in speziellem Mass für eine verpasste Behandlung zuständig wäre, halte ich daher für unzulässig. – Gemeint sind wahrscheinlich jene Kollegen, die der Homöopathie eine übersteigerte Substanzwirkung zusprechen – und dadurch den Patienten eine echt wirsame Substanz vorenthalten. Solche Personen gibt es aber nicht nur unter Homöopathen, sondern auch andernortes.
Kurz gesagt: Ich sehe das Problem nicht in der Wahl der Placebo-Methode, sondern in der Grenzziehung des jeweiligen Anwenders.
Wenn ich die unten angefügte Studie richtig verstehe, ist bei der Abgabe von Placebos kein paternalistisches Vorgehen nötig. Placebos (und somit auch homöopathische Behandlungen) wirken auch dann, wenn sie offen vor dem Patienten als Placebo bezeichnet werden.
Cosima Locher, Antje Frey Nascimento, Irving Kirsch, Joe Kossowsky, Andrea Meyer, Jens Gaab
Is the rationale more important than deception? A randomized controlled trial of open-label placebo analgesia
PAIN (2017), doi: 10.1097/j.pain.0000000000001012
Ja, Open Label Placebo (OLP) ist sehr interessant! Oben lasse ich dieses Thema bewusst aus.
Am grundsätzlichen moralischen Problem mit Homöopathie als Placebo ändert sich leider nichts, wenn Homöopathie als OLP verabreicht wird – denn die expliziten Behauptungen der homöopathischen Lehre bleiben eben eben bestehen (wenn man es durchdekliniert, ist das moralische Problem mit Homöopathie als OLP sogar noch stärker als mit Homöopathie als klassisch verdecktem Placebo).
Wenn der Arzt sagt, dass er das homöopathische Mittel für einen Placebo hält, impliziert er damit, dass er nicht den Lehren Hahnemanns folgt und gibt Ihnen so nicht den Raum, von dem Sie hier sprechen. Außerdem ist Eigenverantwortung in der Meinungsbildung eine Pflicht nach Kant und sie sprechen es dem Patienten implizit ab, diese Pflicht einhalten zu können. Dieses Absprechen ist nach Kant sogar falsch. Versuchen Sie es nochmal mit einem deontologischen Argument, ich denke nicht, dass sie es schaffen, Ihre Haltung vom kategorischen Imperativ abzuleiten.
Ihre utilitaristische Begründung fußt auf einen unbelegten, kausalen Zusammenhang von Homöopathie und Impfgegnerschaft. Diese Korrelationen, die sie zitieren, sind zwar real, aber dennoch lässt sich daraus nicht ableiten, dass es die Berührung mit der Homöopathie ist, die dazu führt, dass Menschen zu Impfgegnern werden. Das ist eine haltlose Unterstellung und deswegen kann der mittelfristige negative impact, von dem Sie sprechen, hier kein Argument sein. Ich bin auch bei der utilitaristischen Argumentation auf Ihren nächsten Versuch gespannt, denn ich sehe nicht, wie ein offener und ehrlicher Arzt das Glück mindert oder das Leid erhöht, wenn er zusätzlich Homöopathie anwendet.
Sehe Sie bitte, dass Sie ein Vorurteil gegen die Homöopathen haben, dass sich hier in Ihren Argumentationen ausdrückt.