Die Tamedia betreibt neuerdings eine App, die nach eigenen Angaben die 12 relevantesten Perlen ihrer Artikellandschaft täglich dem Endbenutzer ausspuckt1.
Bei so einem Versprechen erwartet man schon harte Substanz. Ein Gefühl von Substanz erhält man denn auch, wenn man den Ende März erschienenen Artikel „Glückliche Mieter, bünzlige Hausbesitzer“2 zu lesen beginnt. Man denkt in einen dieser Artikel zu bürgerlichen Alltagsthemen einzutauchen, wo es ums Wohnen, Hypotheken, die richtige Wahl und im Wesentlichen ums Thema Eigenheim geht. Der Artikel liest sich ganz nüchtern, bisweilen fast interessant, eröffnet überschlagsweise Berechnungen als Vergleich zwischen Wohnungsmiete und –kauf. Und wo man nach den Abhandlungen über potenzielle familiäre Konflikte im Anschluss an einen enttäuschenden Wohnungs- oder Hauskauf schliesslich das Ende des Artikels erwartet, trifft einen plötzlich der esoterische Schlag.
Gekonnt mischt der Autor die Dramaturgie der first-world-problems (ich habe ein Haus für eine Million gekauft und bin nun doch nicht glücklicher) mit einer fast schon überdosierten Handvoll feinstofflicher Behauptungen von einem wohl in letzter Minute noch zwecks Streckung der Artikellänge beigezogenen „Experten“, einem Baufachmann und „Geomant“. Da reisst einen dieser nonchalante Übergang von völlig nüchternen wirtschaftlichen und sozialen Beobachtungen und Beschreibungen in eine New-Age-Wahnwelt aus dem Leseautomatismus. Nun liest man von Feng-Shui, Feinstofflichkeit, Strahlenbelastung (ob die da mit dem Geigerzähler Wohneigentum abklappern?) und gestörten Energieflüssen, die scheinbar nicht in Synchronie mit den Eigentümern seien. Am lehrreichsten ist wohl die Aussage, dass bei Minergiehäusern der Energiefluss von innen nach aussen gestört sei – als ob dies nicht Sinn und Zweck eines solchen Hauses wäre? Ach, feinstoffliche Sachen, lasse ich mir sagen, kann man nicht messen, dafür werde der Experte oft belächelt. Etwa wie der Tor, der behauptet, seine Intelligenz werde oft belächelt, einfach weil man sie nicht messen könne.
Nur: Um zu erkennen, dass es in einem nicht gut durchlüftbaren Minergiehaus bisweilen zu einem olfaktorischen Stillstand kommen kann, bedarf es meiner Meinung nach keiner hochenergetisierter Feinstofflichkeits-Kenntnisse, auch wenn der Gestank auf molekularer Ebene besteht.
Die Ernennung zum Humbug des Monats verdient dieser Artikel dank dem gekonnten Übergang von einem seriös-nüchternen Thema zur Vollgasesoterik, ohne dass man den Eindruck hat, dass der Autor dabei auch nur einmal geblinzelt hätte.
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Ihnen ist ein Beitrag in den Medien aufgefallen, der den Titel Humbug des Monats verdient? Melden Sie ihn Denis Uffer unter denis.uffer@skeptiker.ch. Danke!
References
- http://www.tamedia.ch/de/marken/details/12-app
- Steiner, Jürg. 2017. „Glückliche Mieter, bünzlige Hausbesitzer“. Berner Zeitung. http://mobile2.12app.ch/articles/24023698.
One Comment on “Feinstoffliche Kriterien in der Tamedia-Artikelwahl. Humbug des Monats 03-2017”
Super Artikel, danke. Mit einem esoterischen Touch kann vieles halt besser verkauft werden und da scheinbar bei vielen der gesunde Menschenverstand abhanden gekommen, erstaunen mich solche Artikel nicht.
Ich bin mich einiges gewohnt und weis wovon ich spreche, aber ich gebe Ihnen recht:
Dieser Artikel verdient als „Humbug des Monats“ betitelt zu werden.
Danke