20 Minuten1 bleibt sich treu: Mit bestem Willen habe ich nach einer anderen Publikation gesucht, die der übereifrigen Fehlinterpretation dieser einen Studie2 auf den Leim gekrochen sein könnte. Aber 20 Minuten bleibt bei weitem die prominenteste Zeitung, die diese goldene Wahrheit dem Volke zur Lektüre vorlegt und verdient sich auch im Mai 2017 wieder den „Humbug des Monats“.
Und im Trend sind sie auch noch: Lehrer-Hetze ist in aller Munde (wo es bisweilen realen Grund für Kritik am Lehrerstand gibt, bin sogar ich nicht unbeteiligt) und was gibt es schlagkräftigeres, als die Hetzerei auf das Fundament einer tollen Studie zu stellen? Nur sollte man diese dafür auch gelesen haben.
20 Minuten zitiert aus einer Studie2, die gezeigt haben soll, dass Lehrerinnen und Lehrer, die zu ihrer Schülerschaft einen schlechten zwischenmenschlichen Bezug haben, diese in den Alkohl- und Drogenkonsum drängen. Diesen Schluss zog 20 Minuten – nicht aber die Studienautorinnen – aus einer Befragung von Jugendlichen zu ihrem Alkohol- und Drogenkonsum sowie deren zwischenmenschlichen Verhältnissen zu Mitmenschen, Familie und Lehrerschaft. Die Studie zeigt eine Korrelation. Weil es eine negative Korrelation zwischen der Lehrer-Schüler-Verhältnisqualität und dem Alkohol- und Drogenkonsum letzterer ist, erlauben sich die 20 Minuten-Redakteure, die Kausation daraus zu Prophezeien. Denn jeder weiss: Die Lehrer sind an allem schuld, auch an der fehlenden oder misslungenen Erziehung durch die Eltern und an den schlechten Genen der Schülerschaft.
Ganz im Geiste unserer emotionsgeführten Zeit betitelt man dort den einen Absatz: „Beziehung steht an erster Stelle“. Genau, liebe Lehrerschaft, Ihre Aufgabe ist wohlgemerkt nicht, der Schülerschaft Mathe, Deutsch und Darwins ohnehin moralisch fragwürdige Evolutionstheorie (die Theorie des Teufels!) beizubringen. Die Bemühungen, Schweizer Landessprachen aus Lehrplänen zu streichen sind denn auch in diesem Licht zu sehen: Es soll so mehr Zeit für die Lehrer bleiben, eine geschmeidige Beziehung zu ihren Schülern aufzubauen. Und so konkludiert ein von 20 Minuten noch zwecks „Expertise“ herbeizitierter Heilpädagoge, dass zwischen Lehrerin und Schülerin „ein von Wertschätzung geprägtes Klima“ […] „ungeheuer wichtig“ sei. Ich wage es zu fragen, wieviel Wertschätzung die Lehrerin dem sich betrinkenden Schüler oder der kiffenden Schülerin entgegenbringen muss, nachdem diese auf frischer Tat ertappt worden sind?
Und Hier kristallisiert sich auch schon die Ironie der gesamten Studie heraus: Wer Alkohol oder Drogen konsumiert und hierbei vom Lehrer erwischt wird, kann heutzutage mit gutem Grund damit rechnen, dass daraus nicht gerade eine kuschelige Beziehung zur Lehrperson hervorwachsen wird. Wer sich schlecht verhält (und dazu gehöre nun Alkohol- und Drogenkonsum im Jugendalter!), wird die Ungunst der Erwachsenen (inkl. Lehrpersonen) auf sich ziehen – und nicht umgekehrt! Während die Studienautorinnen nur vorsichtige Schlüsse ziehen und Korrelation nicht mit Kausation verwechseln, wird hier klar, dass der Autor des 20 Minuten-Artikels wohl nicht über die erste Seite und die Diagramme und Bildchen in der Studie hinausgelesen hat.
Wenn es also das Ziel des Journalisten war, die weit verbreiteten Vorurteile gegenüber Sozialwissenschaften als unseriös und unwissenschaftlich zu bekräftigen: Chapeau, Ziel erreicht!
Es gibt haufenweise Studien3 4 5 6 7 8, die die Ursachen des frühen und erhöhten Alkohol- und Drogenkonsums bei Jugendlichen aufzudecken versuchen. Dass sich die die 20 Minuten-Redaktion anmasst, den heiligen Gral des Drogenmissbrauchs bei Jugendlichen entdeckt zu haben, kann nur belächelt werden.
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Ihnen ist ein Beitrag in den Medien aufgefallen, der den Titel Humbug des Monats verdient? Melden Sie ihn Denis Uffer unter denis.uffer@skeptiker.ch. Danke!
References
- 20 Minuten. Wer den Lehrer nicht mag, beginnt zu trinken. http://www.20min.ch/schweiz/news/story/11984902.
- Eichenberger, Y., & Delgrande Jordan, M. (2017). Unterstützung durch Familie und Freundeskreis sowie Personen im schulischen Umfeld. Wahrnehmung der 11- bis 15-Jährigen und Zusammenhang zum psychischen Wohlbefinden und zum Konsum psychoaktiver Substanzen (Kurzbericht Nr. 87B). Lausanne: Sucht Schweiz. http://www.suchtschweiz.ch/fileadmin/user_upload/DocUpload/RR_87B.pdf.
- Stone, A. L., Becker, L. G., Huber, A. M. & Catalano, R. F. Review of risk and protective factors of substance use and problem use in emerging adulthood. Addict. Behav. 37, 747–775 (2012).
- Kirkcaldy, B. D., Siefen, G., Surall, D. & Bischoff, R. J. Predictors of drug and alcohol abuse among children and adolescents. Personal. Individ. Differ. 36, 247–265 (2004).
- Kaplow, J. B., Curran, P. J. & Dodge, K. A. Child, Parent, and Peer Predictors of Early-Onset Substance Use: A Multisite Longitudinal Study. J. Abnorm. Child Psychol. 30, 199–216 (2002).
- DeWit, D. J., Adlaf, E. M., Offord, D. R. & Ogborne, A. C. Age at First Alcohol Use: A Risk Factor for the Development of Alcohol Disorders. Am. J. Psychiatry 157, 745–750 (2000).
- Hawkins, J. D. et al. Exploring the effects of age of alcohol use initiation and psychosocial risk factors on subsequent alcohol misuse. J. Stud. Alcohol 58, 280–290 (1997).
- Substance Abuse May Be Predicted in Early Childhood. https://archives.drugabuse.gov/NIDA_Notes/NNVol10N1/Earlychild.html.