Medienlogiken vs. Rationalität im Journalismus

Marko KovicBlog5 Comments

Ist jede Debatte es wert, geführt zu werden?

Ein Screenshot aus der Arena-Sendung vom 1. Dezember 2017.

Die Debattiersendung Arena des Schweizer Fernsehens hat in einer Ausgabe von Anfang Dezember 2017 Impfungen thematisiert1. Die impfkritischen Gäste in der Sendung haben eine Reihe offenkundig falscher Behauptungen gemacht. Unter anderem die folgenden:

  • Impfungen wirkten grundsätzlich nicht (Doch, das tun sie2 3 4).
  • Die Masern-Impfung wirke nicht (Doch, das tut sie5 6).
  • Die MMR-Impfung verursache Autismus (Nein, das tut sie nicht7 8 9 10).
  • Die Grippe-Impfung wirke nicht (Doch, das tut sie – aber leider weniger gut als andere Impfungen11 12 13).

Der Umstand, dass in der Arena, einer in der Schweiz stark beachteten Sendung des öffentlichen Senders SRF, Impfgegner mit ihren potenziell schädlichen und trivial einfach widerlegbaren Argumenten auftreten, wirft die Frage auf, wie so eine Sendung aus moralischer Sicht zu beurteilen ist. Handelt es sich um eine journalistische Fehlleistung, weil irrationale Impfgegner eine Bühne erhalten? Oder macht die Sendung vielleicht genau alles richtig, weil beide Seiten eines kontroversen Themas zu Wort kommen?

Die moralische Motivstruktur der Medien

Welche Rolle sollen Medien, also Journalistinnen und Journalisten, in einer demokratischen Gesellschaft haben? Über die Antwort auf diese Frage wird seit Langem gestritten und es wird voraussichtlich auch in Zukunft weiterhin darüber gestritten. Ganz allgemein besteht vermutlich Konsens darüber, dass Journalismus uns allen hilft, wie auch immer geartete Informationen über die Welt zu erhalten. Das ist allerdings nur eine triviale Minimalbeschreibung von Journalismus. Wenn es genauer um die Frage geht, wie Medienschaffende ihrer Arbeit nachgehen sollen, nach was für einer Moral sich Medienschaffende also richten, wird es kompliziert.

Was genau die moralischen Überlegungen der Arena-Redaktion bei der Ausgabe zu Impfungen waren, wissen wir nicht. Wir können aber versuchen, im Sinne des Prinzips des Wohlwollens eine moralische Begründung für die Arena-Sendung zu rekonstruieren. Es gibt zwei generelle moralische Überlegungen, welche bei der Arena eine Rolle gespielt haben könnten und welche im Journalismus allgemein eine Rolle spielen.

Das medienlogische Gebot der Ausgeglichenheit

In der Impf-Ausgabe der Arena haben zwei in etwa gleich stark vertretene Seiten ihre Meinung vertreten: Eine Seite bestand aus Verfechtern von Impfungen, die andere Seite aus Impfgegnern. Diese Art der Anordnung nach Pro und Contra ist ein wesentliches Merkmal der Medienlogik des Sendungsgefässes Arena, denn die Arena ist von ihrer Struktur her darauf ausgelegt, zwei Seiten gegeneinander antreten zu lassen. Medienlogiken sind journalistische Heuristiken, um Inhalte auf eine für das Publikum attraktive Art und Weise aufzubereiten. Eine hitzige Debatte nach diesem Muster, in der sich Pro- und Contra-Seite intensiv austauschen, hat nicht zuletzt eine gewisse dramaturgische Qualität. Medienlogiken sind aber nicht nur dramaturgische Werkzeuge, denn sie können auch die Funktion moralischer Heuristiken haben.

Die journalistische Regel, bei einem gesellschaftlich relevanten Thema beide Seiten zu Wort kommen zu lassen, hat einen deutlichen moralischen Einschlag. Aus einer deontologischen Perspektive (Pflichtenethik) hat das journalistische Gebot der Ausgeglichenheit nämlich den durchaus wünschenswerten Zweck, auch marginalisierten Stimmen die Möglichkeit zu geben, ihre Sichtweise kundzutun. Das bedeutet, dass es manchmal genau darum gehen kann, kleinen Minderheiten eine Bühne zu geben, denn die Minderheit kann ganz legitime Anliegen haben, welche die Mehrheit schlicht ignoriert. Die Impfgegner in der Arena repräsentieren zumindest ein Stück weit eine solche Minderheit. Sie sind Menschen, die sehr stark und aufrichtig glauben, woran sie glauben.

Epistemische Nutzenmaximierung

Ausgeglichenheit als medienlogische moralische Heuristik ist leicht nachzuvollziehen. Ausgeglichenheit als pauschale Heuristik hat aber einen grossen Nachteil: Ausgeglichenheit bei objektiven Sachverhalten kann bedeuten, dass der Eindruck vermittelt wird, bei einem bestimmten Thema gebe es zwei gleich grosse und gleich gut begründete Seiten – obschon der objektive Sachverhalt in Tat und Wahrheit sehr klar ist. Diese negative Seite der Ausgeglichenheit wird bisweilen „False Balance“14, also falsche Ausgeglichenheit, genannt. Falsche Ausgeglichenheit hat zur Folge, dass das journalistische Handeln aus einer konsequenzialistischen Sicht moralisch falsch ist: Wenn Journalismus das Ziel verfolgen soll, den epistemischen Nutzen für die Gesellschaft zu maximieren, also objektive Sachverhalte möglichst rational zu behandeln, dann schadet falsche Ausgeglichenheit diesem Ziel.

Bei der Impf-Ausgabe der Arena spielt epistemische Nutzenmaximierung durchaus eine Rolle. Aus der Sendungsdynamik heraus deutet sich an, dass die Arena-Redaktion tendenziell einen „Bias“ hin zu wissenschaftlicher Evidenz hat und nicht bloss nach der Ausgeglichenheits-Heuristik operiert. Das resultiert allerdings in einem Zielkonflikt: Gleichzeitig journalistisch ausgeglichen zu sein und den epistemischen Nutzen zu maximieren, ist nicht möglich. Letztlich hat die Arena mit der Impf-Sendung möglicherweise nicht nur den epistemischen Nutzen für das Publikum nicht erhöht, sondern sogar epistemischen Schaden angerichtet. Wenn beispielsweise eine unentschlossene Person die Arena-Sendung verfolgt hat, ist es gut möglich, dass die Argumente der Impfgegner, trotz ihrer Rationalitätsdefizite, sie emotional stärker überzeugt haben.

Epistemische Nutzenmaximierung hat Vorrang vor Ausgeglichenheit

Die Frage, welche Art des Journalismus moralisch richtig ist, lässt sich nicht ohne Weiteres klären. Im Zweifelsfall ist allerdings die moralische Perspektive der epistemischen Nutzenmaximierung der Heuristik der Ausgeglichenheit vorzuziehen. Wenn wir Ausgeglichenheit als die höchste moralische Priorität ansehen, ergeben sich zahllose Konstellationen, die aus einer epistemischen Sicht geradezu absurd sind: Die Erde ist flach vs. die Erde ist rund; die Zahnfee existiert vs. sie existiert nicht; und so fort. Aus der Perspektive der epistemischen Nutzenmaximierung kann Ausgeglichenheit potenziell trotzdem nützlich sein, und zwar, wenn Ausgeglichenheit als Vielfalt angesehen wird: Dadurch, dass unterschiedliche Argumente zusammengetragen werden, wird die Wahrscheinlichkeit erhöht, zu richtigen Schlussfolgerungen zu kommen.

Epistemische Nutzenmaximierung erfordert von Medienschaffenden, dass sie sich als aktive rationale Akteure verstehen, nicht als neutrale Moderatoren. Und das bedeutet auch, dass Medienschaffende manchmal auf Debatten verzichten, wenn sie keinen epistemischen Nutzen haben oder sogar epistemischen Schaden anrichten.

Autor

References

  1. “SRF News: Impfdiskussion in Der «Arena» – Gegen Welche Krankheiten Soll Man Sich Impfen?” 2017. Schweizer Radio Und Fernsehen (SRF). December 2, 2017. https://www.srf.ch/news/schweiz/impfdiskussion-in-der-arena-gegen-welche-krankheiten-soll-man-sich-impfen.
  2. Andre, FE, R Booy, HL Bock, J Clemens, SK Datta, TJ John, BW Lee, et al. 2008. “Vaccination Greatly Reduces Disease, Disability, Death and Inequity Worldwide.” Bulletin of the World Health Organization 86 (2). http://www.who.int/bulletin/volumes/86/2/07-040089/en/.
  3. Bloom, David E., David Canning, and Mark Weston. 2011. “The Value of Vaccination.” Advances in Experimental Medicine and Biology 697:1–8. https://doi.org/10.1007/978-1-4419-7185-2_1.
  4. Ehreth, Jenifer. 2003. “The Global Value of Vaccination.” Vaccine, Vaccines and Immunisation 2003. Based on the Third World Congress on Vaccines and Immunisation, 21 (7–8):596–600. https://doi.org/10.1016/S0264-410X(02)00623-0.
  5. Sudfeld, Christopher R., Ann Marie Navar, and Neal A. Halsey. 2010. “Effectiveness of Measles Vaccination and Vitamin A Treatment.” International Journal of Epidemiology 39 (suppl_1):i48–55. https://doi.org/10.1093/ije/dyq021.
  6. Uzicanin, Amra, and Laura Zimmerman. 2011. “Field Effectiveness of Live Attenuated Measles-Containing Vaccines: A Review of Published Literature.” The Journal of Infectious Diseases 204 (suppl_1):S133–49. https://doi.org/10.1093/infdis/jir102.
  7. DeStefano, Frank, and William W. Thompson. 2004. “MMR Vaccine and Autism: An Update of the Scientific Evidence.” Expert Review of Vaccines 3 (1):19–22. https://doi.org/10.1586/14760584.3.1.19.
  8. Jefferson, Tom, Deirdre Price, Vittorio Demicheli, and Elvira Bianco. 2003. “Unintended Events Following Immunization with MMR: A Systematic Review.” Vaccine 21 (25–26):3954–60. https://doi.org/10.1016/S0264-410X(03)00271-8.
  9. Maglione, Margaret A., Lopamudra Das, Laura Raaen, Alexandria Smith, Ramya Chari, Sydne Newberry, Roberta Shanman, Tanja Perry, Matthew Bidwell Goetz, and Courtney Gidengil. 2014. “Safety of Vaccines Used for Routine Immunization of US Children: A Systematic Review.” Pediatrics 134 (2):325–37. https://doi.org/10.1542/peds.2014-1079.
  10. Taylor, Luke E., Amy L. Swerdfeger, and Guy D. Eslick. 2014. “Vaccines Are Not Associated with Autism: An Evidence-Based Meta-Analysis of Case-Control and Cohort Studies.” Vaccine 32 (29):3623–29. https://doi.org/10.1016/j.vaccine.2014.04.085.
  11. Cohen, Jon. 2017. “Why Flu Vaccines so Often Fail.” Science | AAAS. September 20, 2017. http://www.sciencemag.org/news/2017/09/why-flu-vaccines-so-often-fail.
  12. Demicheli, Vittorio, Tom Jefferson, Lubna A Al-Ansary, Eliana Ferroni, Alessandro Rivetti, and Carlo Di Pietrantonj. 2014. “Vaccines for Preventing Influenza in Healthy Adults.” In Cochrane Database of Systematic Reviews. John Wiley & Sons, Ltd. https://doi.org/10.1002/14651858.CD001269.pub5.
  13. Osterholm, Michael T, Nicholas S Kelley, Alfred Sommer, and Edward A Belongia. 2012. “Efficacy and Effectiveness of Influenza Vaccines: A Systematic Review and Meta-Analysis.” The Lancet Infectious Diseases 12 (1):36–44. https://doi.org/10.1016/S1473-3099(11)70295-X.
  14. Grimes, David Robert. 2016. “Impartial Journalism Is Laudable. But False Balance Is Dangerous.” The Guardian, November 8, 2016, sec. Science. http://www.theguardian.com/science/blog/2016/nov/08/impartial-journalism-is-laudable-but-false-balance-is-dangerous.

5 Comments on “Medienlogiken vs. Rationalität im Journalismus”

  1. Ich hatte die „Arena“ bezüglich dieser Sendung per Mail kontaktiert. Ich führte an, dass der Wille zu einer ausgeglichenen Diskussion nicht rechtfertigt, alle Interessengruppen per se als „gleichwertig“ anzusehen. Als Vergleich führte ich an, dass man ja auch keine Skinheads zu einer Diskussion über die bilateralen Verträge einladen würde. Die Antwort war leider sehr nichtssagend. Hier eine gekürzte Fassung:

    „Die Aufgabe der «Arena» ist es, auch kontroverse Themen aufzugreifen. Sie bietet Raum, um die besten Argumente der jeweiligen Position konzis vorzubringen. Zudem kann die Gegenseite darauf reagieren und allfällige Schwachstellen in der Argumentation blosslegen. Aber Sie haben Recht: Gewisse Themen gehen zu weit. In unseren Augen war das im Fall der grundsätzlichen Diskussion von Impffragen hingegen nicht gegeben.“

    Von den Skeptikern hätte ich mir gewünscht, dass Marko als Autor dieses Beitrags ganz klar seine Meinung äussert, ob die Arena in diesem Fall den „Humbug des Monats“ verdient hat, oder nicht. Denn ein Blog soll (wie alle Medien) in meinen Augen nicht nur erklären, sondern auch einordnen.

    1. Also, der Humbug des Monats ist nicht meine Abteilung ;).

      Aber im Ernst: Die Antwort der Redaktion ist ein bisschen 08/15… Ich glaube, sie wollten eigentlich wirklich die Impfgegner ein bisschen in die Pfanne hauen, was aber nach hinten losging. Der Netto-Impact dieser Sendung ist, glaube ich, negativ – sie hat vermutlich mehr geschadet als genützt.

      Lieber Gruss
      Marko

  2. Lieber Marko,
    vielen Dank für den neuerlichen aufklärerischen Beitrag, in dem Du schreibst:

    Aus der Perspektive der epistemischen Nutzenmaximierung kann Ausgeglichenheit potenziell trotzdem nützlich sein, und zwar, wenn Ausgeglichenheit als Vielfalt angesehen wird: Dadurch, dass unterschiedliche Argumente zusammengetragen werden, wird die Wahrscheinlichkeit erhöht, zu richtigen Schlussfolgerungen zu kommen.

    Zwar schränkst Du die Aussage durch ein potenziell ein, doch das macht den letzten Satz nicht wahrer. Nur weil ich unterschiedliche Argumente zusammentrage, wird die Wahrscheinlichkeit nicht erhöht, zu richtigen Schlussfolgerungen zu kommen.

    Begründung:
    Nehmen wir an, es träfen sich verschiedene Vertreterinnen und Vertreter von Weltentstehungsmythen, und nehmen wir weiter an, sie wären in der Lage, Argumente für ihre Entstehungsgeschichten vorzutragen, dann nimmt die Wahrscheinlichkeit dennoch nicht zu, über die Entstehung der Welt zu richtigen Schlussfolgerungen zu gelangen; es sei denn unter ihnen, befände sich zufällig jemand, der oder die Physik studierte.

    Oder habe ich da etwas falsch verstanden?

    Liebe Grüße,
    Carsten

    1. Ciao Carsten!

      Nun, ich bin mir eben auch nicht sicher, ob Vielfalt grundsätzlich nützlich ist. Wenn man davon ausgehen könnte, dass die Wahrscheinlichkeit, wahre Schlussfolgerungen zu machen, mindestens gleich gross ist, wenn die Vielfalt grösser ist, wäre das ein Argument für Vielfalt.

      Vielfalt wäre, anders ausgedrückt, dann definitiv wünschenswert, wenn:

      Pr(Wahrheit | n+1 Standpunkte)

      Pr(Wahrheit | n Standpunkte)

      Ob dem so ist, weiss ich nicht. Ich glaube, dass diese Regel zutrifft, wenn wir von rationalen Akteuren ausgehen, die andere Standpunkte wohlwollend (Principle of Charity) ansehen und gewillt sind, den eigenen Standpunkt, je nach Argumenten und Evidenz, zu updaten. In der Realität haben wir aber selten eine solche Akteurskonstellation, sodass mehr Standpunkte so gut wie sicher immer auch irrationale Dynamiken bedienen oder verursachen. Die Frage wäre hier, ob dieses irrationale Rauschen aggregiert so verteilt ist, dass am Schluss die Daumenregel mit mehr Standpunkten doch wieder zutrifft.

      Lieber Gruss
      Marko

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