Warum denn jetzt noch ein Artikel zur Initiative für ein Tier- und Menschenversuchsverbot? Ist da nicht schon längst alles gesagt? Und ist es auf Grund der letzten Umfragen nicht schon heute klar, dass diese Initiative auch nicht den Hauch einer Chance hat? Doch, genau so ist es. Und deshalb sollen hier auch nicht all die Argumente nochmals aufgewärmt werden, die gegen diese Vorlage sprechen. Vielmehr geht es um einen grundlegenden Denkfehler, dem die Initianten und Befürworter unterliegen.
Seit vielen Jahren wird daran geforscht, Tierversuche durch andere Methoden (z.B. Untersuchungen an Zellkulturen oder Computersimulationen) zu ersetzen. Diese Forschungen haben bereits ansehnliche Erfolge gezeitigt, was sich an der stetig abnehmenden Anzahl von Tierversuchen zeigt. Auf diesem Wege kann und soll auch in Zukunft weitergefahren werden, wenn nötig auch mit Einsatz noch grösserer finanzieller Mittel. Das lohnt sich nicht nur ideell, sondern auch aus ganz nüchterner, materieller Sicht, denn Tierversuche und klinische Studien sind aufwendig und teuer; ihre Vermeidung liegt deshalb auch im ökonomischen Interesse der betreffenden Universitätsinstitute und kommerziellen Firmen.
Aber das ist etwas ganz anderes als zu behaupten, man könne die Tierversuche und die klinischen Studien von heute auf morgen abschaffen und alles auf solche Verfahren umstellen. So funktioniert Forschung nun mal nicht; sie ist kein Selbstbedienungsladen, in welchem man einfach das Gewünschte abgreifen kann. Forschung ist zwar wohl oft mit Erfolgen, mindestens ebenso oft aber auch mit Rückschlägen verbunden. Und wenn wir die aktuelle Frage betrachten, so sind wir noch meilenweit davon entfernt, die Komplexität eines ganzen Organismus in einem Computermodell abzubilden – wenn wir das überhaupt jemals schaffen. Dies aber wäre die Voraussetzung dafür, dass wir erwünschte und unerwünschte Wirkungen eines Medikamentes oder einer anderen medizinischen Therapie ohne dessen Anwendung in lebenden Organismen zuverlässig voraussagen könnten.
Gerade seitens der Tierversuchsgegner wird oft behauptet, Resultate aus Tierversuchen seien nicht auf den Menschen übertragbar. Als pauschale Aussage ist das nicht besonders sinnvoll1, denn diese Übertragbarkeit ist je nach Tierart und Fragestellung mehr oder weniger gut gegeben; deshalb werden ja für unterschiedliche Untersuchungen auch unterschiedliche Tierarten verwendet. Was aber völlig klar ist: auch eine Maus steht uns biologisch immer noch sehr viel näher als ein noch so ausgefeiltes Computermodell. Und dass eine Zellkultur zwar sehr nützlich ist, um bestimmte Reaktionsmechanismen abzuklären, aber nicht viel bringt, wenn das Zusammenspiel eines ganzen Organismus betrachtet werden soll, versteht sich wohl ebenfalls von selbst.
Wie sehr die Voraussagen über künftige wissenschaftliche Errungenschaften oftmals von den tatsächlichen Entwicklungen abweichen, lässt sich an einem ganz anderen Beispiel zeigen: In den Jahren um 1970 erschienen zahlreiche populärwissenschaftliche Artikel zum Thema der Kernfusion, und man konnte damals allenthalben lesen, dass diese Technik wahrscheinlich in etwa 50 Jahren alle Energieprobleme der Erde lösen werde. Nun, die 50 Jahre sind um, und was lesen wir heute? Sehr ähnliche Einschätzungen2, aber nicht etwa in Reprints.
Eine Initiative, die Tierversuche und klinische Studien radikal verbieten will, ist heute etwa so sinnvoll wie eine, die verlangte, unsere Energieversorgung sei per sofort ausschliesslich auf die Kernfusion umzustellen. In beiden Fällen liegt eine vollständige Verkennung des aktuellen Forschungsstandes und der Vorhersagbarkeit zukünftiger Forschungsergebnisse vor – nur dass die Kernfusions-Initiative zum Glück nicht existiert.
Eine Ergänzung drängt sich auf: unter den Initianten und Befürwortern gibt es offenbar auch eine (wahrscheinlich aber nur kleine) Gruppe, die durchaus konsequent argumentiert. Diese Leute sprechen dann aber nicht von Computermodellen oder Zellkulturen, sondern sagen ganz offen, was man nicht ohne Tierversuche entwickeln könne, das solle man eben nicht entwickeln, weil das Recht der Tiere demjenigen der Menschen gleichzustellen sei. Wer so argumentiert, hat mindestens die logische Stringenz auf seiner Seite. Eine Volksinitiative mit nur dieser Argumentationslinie wäre jedoch noch viel aussichtsloser.
Aber machen wir doch einmal das Gedankenspiel, nehmen wir an, es gelänge, die vorliegende Initiative mit einer solchen absoluten Argumentation (und einer dementsprechend harten Gesetzgebung) durchzusetzen. Dies würde praktisch bedeuten, den heutigen Stand der Medizin festzuschreiben und weitere Fortschritte zu unterbinden, denn selbst wenn in Zukunft weitere tierversuchsfreie Verfahren entwickelt würden, wäre deren Validierung mittels heute anerkannter (und damit eben in aller Regel mit Tierversuchen verbundener) Verfahren kaum mehr möglich. Und wer würde denn schon behaupten wollen, der heutige Stand der Medizin sei das Mass aller Dinge – es gibt eine ganze Reihe von Krankheiten, die heute nicht oder nur unzureichend behandelt werden können, und es gibt zahlreiche medizinische Verfahren, die zwar wirksam, aber auch mit bedeutenden unerwünschten Wirkungen verbunden sind. All dies könnte praktisch nicht mehr weiter erforscht und optimiert werden. Logisch, konsequent wäre das. Aber nicht zum ersten Male stehen sich hier die reine Lehre und die Menschlichkeit offensichtlich gegenseitig im Wege.
Deshalb sind auch hier die kleinen, aber realistischen Schritte sinnvoller: Ja, die Forschung an tierversuchsfreien Verfahren ist weiter zu fördern3. Ja, wo es schon heute keine Tierversuche braucht, sollen sie unterbleiben. Und ja, Tierversuche für überflüssige Produkte (wie etwa für viele Kosmetika) sind abzulehnen. Aber ein Totalverbot wäre nicht nur äusserst schädlich für die universitäre und industrielle Forschung, wäre nicht nur katastrophal für die weitere Entwicklung der medizinischen Behandlung schwerer Krankheiten und Unfallfolgen, sondern wäre auch eine Absage an eine differenzierte und realistische Einschätzung der Möglichkeiten und Grenzen der wissenschaftlichen Forschung.
References
- McGonigle P, Ruggeri B. Animal models of human disease: Challenges in enabling translation. Biochem Pharmacol. 2014;87(1):162-171. doi:10.1016/j.bcp.2013.08.006
- Kernfusion: »Wir haben noch keine Patentlösung für das Energieproblem«. Spektrum.de. https://www.spektrum.de/news/kernfusion-wie-geht-es-bei-iter-voran-und-ueberholen-uns-die-chinesen/1595228. Published October 4, 2018. Accessed January 28, 2022.
- Doke SK, Dhawale SC. Alternatives to animal testing: A review. Saudi Pharm J. 2015;23(3):223-229. doi:10.1016/j.jsps.2013.11.002
One Comment on “Nein zum Tier- und Menschenversuchsverbot!”
Die meisten der Krankheiten, an denen sich die Medizin seit geraumer Zeit abarbeitet und die immer wieder als Argument für weitere Forschung ins Feld geführt werden, sind Folgeerscheingungen desselben gesellschaftlichen Komplexes, der moderne Medizin in dem Sinne überhaupt erst möglich macht. Moderne Medizin ist das Anhängsel eines politisch-ökonomischen Systems, das Wissenschaft in erster Linie für die nötigen technischen Innovationen betreibt. Forschung ohne „Mehrwert“ verschwindet in dem Maße, wie die Wachstumskurve abflacht. Jeder im Wissenschaftsbetrieb weiß das inzwischen, denn das Problem wird täglich akuter. Die Lösung ist daher nicht mehr wissenschaftliche Forschung, deren Folgen und Auswüchse der Kontrolle von 99% der Menschen entzogen sind, sondern ein Ende der verselbstzweckten Wissensproduktion unter dem Label „Wissenschaft“. Das gilt auch und gerade für die Medizin, die für die typisch moderen Leiden (Krebs, Depression) keine Lösung hat, weil diese sich einer rein rationalen Betrachtung entziehen, während sie Präparate und Praktiken zur Linderung systemisch bedingter Symptome als „Fortschritt“ verkauft . Es ist die technologisierte Lebenswelt unserer Arbeits- und Konsumgesellschaft, die krank macht, und was wir brauchen sind keine dezidierten Wissenschaftler, sondern Menschen, die sich als politische Wesen begreifen und den kollektiven Wandel zu einer ganzheitlichen, ausgewogenen und nachhaltigen Lebensführung vorantreiben. Wer heute noch für die Wissenschaft in Bresche springt, tut so, als wäre die wissenschaftliche Methode und der akademischen Betrieb ein- und dasselbe. Das ist aber nicht der Fall: die ökonomisch selektive und demokratisch völlig unregulierte Anwendung der wissenschaftlichen Erkenntnismethode hat uns erst in die Techno-Dystopie, in der wir leben, erst geführt. Aufgekärte Wissenschaftler sollten diesen Tatsachen ins Auge sehen. Und mehr noch, es gilt auch, das „Dritte Auge“ zu öffnen und einsehen, dass es nicht nur Verstand, sondern auch Herz braucht, um diese Welt zu heilen. Jeder Tierversuch ist ein Akt der Gewalt gegenüber dem Lebewesen und ein Akt der Gewalt des Ausführenden gegen sich selbst. Mehr gibt es zu diesem Thema nicht zu sagen. Der Rest ist Handeln.