Verursachen Light-Getränke Diabetes? Ein Beispiel für die «stille Post»-Kommunikationskaskade

Marko KovicSkeptiker-Blog1 Comment

Am 7. Februar berichtete der Tages-Anzeiger über eine neue Studie, welche angeblich zeigt, dass der Konsum sogenannter Light-Getränke das Risiko erhöht, an Typ-2-Diabetes zu erkranken:

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An dieser Geschichte ist nicht so sehr die eigentliche Studie interessant, sondern viel mehr die Art und Weise, wie etappenweise über die Studie berichtet wird, bis zuletzt ganz ähnlich wie bei «stille Post» von der ursprünglichen Botschaft nicht viel übrig bleibt.

Stufe 1: Die Studie

Am Anfang der kommunikativen Verwertungskette steht die Ende Januar veröffentlichte epidemiologische Studie «Consumption of artificially and sugar-sweetened beverages and incident type 2 diabetes in the Etude Epidémiologique auprès des femmes de la Mutuelle Générale de l’Education Nationale–European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition cohort» (PDF). Den Aufbau und die Ergebnisse der Studie fassen die Autorinnen und Autoren auf der ersten Seite zusammen:

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Die Untersuchung basiert auf Panel-Befragungsdaten: Ab 1993 wurde eine grosse Stichprobe von Frauen in Frankreich nach ihren Essgewohnheiten befragt. Das bedeutet, dass die Daten zum Konsum von nicht-nachgezuckertem Fruchtsaft, gezuckerten Getränken (in der Studie mit «SBB» abgekürzt) sowie mit künstlichen Süssstoffen gesüssten Getränken («ASB» in der Studie) Eigenangaben sind und keine präzisen Messungen darstellen. Das ist relevant bei der Interpretation der Ergebnisse. Das Studiendesign hat weitere Schwächen, wie z.B. die Zuverlässigkeit der in Erfahrung gebrachten Diabetes-Erkrankungen:

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Die Ergebnisse der Berechnung der Zusammenhangsmasse werden in Tabelle 1 auf Seite 3 festgehalten:

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Es genügt, nur die Spalte ganz rechts, das «Model 3», zu beachten, da für dieses Modell die meisten Kontrollvariablen mitberücksichtigt sind. Die Ergebnisse zeigen, dass ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen Menge des konsumierten Getränks und Typ-2-Diabetes für nicht-nachgezuckerten Fruchtsaft nicht gegeben ist. Für gezuckerte Getränke sowie für künstlich gesüsste Getränke ist ein solcher Zusammenhang gegeben. Für gezuckerte Getränke ist der Zusammenhang nicht ganz, wie aus toxikologischer Sicht zu erwarten: Der Effekt scheint nicht von der Menge des Getrunkenen abhängig. Als Nicht-Experte weiss ich allerdings nicht, ob eine stete Zunahme der Diabetes-Wahrscheinlichkeit (wie für künstlich gesüsste Getränke beobachtbar) zu erwarten ist, oder ob ab einer bestimmten Schwelle der Effekt in etwa gleich bleibt.

Die Autorinnen und Autoren versuchen auf Seite 5, diese Korrelationen (genau genommen werden keine Korrelationskoeffizienten berechnet, sondern Regressionen, aber es handelt such letztlich immer um bestimmte Spielarten von Zusammenhangsmassen) mit möglichen kausalen Mechanismen zu plausibilisieren:

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Für die Wirkung von gezuckerten Getränken liegen bereits gute Daten vor, für die mögliche Wirkung bei künstlich gesüssten Getränken sprechen die Autorinnen und Autoren explizit von Hypothesen, da noch nicht geklärt ist, wie der Zusammenhang zu erklären ist, d.h., in welche Richtung eine mögliche Kausalität verläuft.

Auf Seite 6 wird das Fazit der Studie festgehalten:

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Aufgrund der Ergebnisse dieser explorativen Studie wird empfohlen, den Zusammenhang zwischen künstlich gesüssten Getränken und Diabetes in randomisierten Studien auf allfällige Kausalitäten zu prüfen.

Stufe 2: Die Agenturmeldung

Beim Artikel des Tages-Anzeigers handelt es sich um eine Agenturmeldung; in ganz ähnlicher Form erschien der Artikel in anderen Medien (z.B. hier, hier oder hier), kurioserweise mit jeweils leichten redaktionellen Abänderungen des Inhaltes.

Beim Artikel im Tages-Anzeiger ist als erstes auffällig, dass die eigentliche Studie nicht zitiert wird. Zwar werden zwei der Autoren genannt, aber auf die eigentliche Studie wird nicht verwiesen. Das legt den Verdacht nahe, dass beim Tages-Anzeiger niemand die Studie gelesen hat. Wer jetzt denkt, das sei zu erwarten, da es sich um eine Agenturmeldung handelt, mag die Zeichnung des Artikels beachten: Nebst der usprünglichen AFP (Agence France-Presse) ist noch «kle» angegeben. Gemäss Impressum von Tagesa-Anzeiger-Online handelt es sich dabei um eine Redakteurin aus Fleisch und Blut.

Im Artikel des Tages-Anzeigers wird zu den erhöhten Risiken folgendes angegeben:

Bei Light-Softdrinks war das Risiko höher als bei gezuckerter Brause: Es steigt bei Frauen, die pro Woche einen halben Liter an Light-Getränken konsumieren, um 15 Prozent. Liegt der Konsum bei eineinhalb Litern künstlich gesüsster Brause pro Woche, steigt das Risiko sogar um 59 Prozent.

Diese Zahlen vermag ich in der Studie selber nicht zu finden.

Weitere Details geben die Studie ebenfalls verzerrt wider. Z.B. die Aussage:

Zum Vergleich werteten die Forscher die Gesundheitsdaten von Frauen aus, die frisch gepresste Obstsäfte trinken. Bei ihnen wurde kein überhöhtes Diabetes-Risiko festgestellt.

Die Studie spricht aber nicht von «frisch gespresstem» Obstsaft, sondern von «100% fruit juice» – also lediglich Fruchtsaft, der nicht nachgezuckert ist.

Abschliessend heisst es im Artikel des Tages-Anzeigers:

Die französischen Forscher räumen aber ein, dass zusätzliche Untersuchungen notwendig sind, um sicherzugehen, dass der Konsum von Light-Getränken die direkte Ursache eines erhöhten Diabetes-Risikos ist.

Die Forscherinnen und Forscher «räumen» nichts ein, sondern machen korrekterweise eine dem Design der Studie angebrachte Schlussfolgerung. Zudem sprechen sie nicht davon, dass man nur noch «sichergehen» müsse, Light-Getränke erhöhten direkt das Diabetes-Risiko, sondern sie fordern, dass mit Studien, welche direkter Kausalitäten messen können, dieser plausiblen Hypothese nachgegangen werden soll.

Stufe 3: Der reisserische Titel

Die Überschrift des Artikels im Tages-Anzeiger lässt keine Fragen offen: «Light-Getränke erhöhen das Diabetes-Risiko».

Erstens widerspricht diese Aussage den differenzierten Ergebnissen der Studie, und zweitens widerspricht diese Aussage dem Fazit des Artikels im Tages-Anzeiger. Wie kommt das? Es ist anzunehmen, dass hier ein Fall von Klickraten-Optimierung vorliegt: Ein saftiger Titel führt zu mehr Resonanz für einen Artikel; dass dabei der Titel nicht unbedingt zum Artikel passt, wird in Kauf genommen.

Stufe 4: Der unterkomplexe Lead

Der Lead ist das Bindeglied zwischen Artikel-Überschrift und Artikel und dient als eine Art Zusammenfassung. Titel und Lead bilden die Elemente eines Artikels, welche am meisten gelesen werden; tendentiell wird der Rest des Artikels von zunehmend weniger Leuten gelesen.

Der Lead des Artikels besteht hier aus zwei Sätzen – einer davon ist falsch. Der erste Satz behauptet, dass Softdrinks ein höheres Diabetes-Risiko darstellten als Fruchtsäfte. In Tat und Wahrheit unterscheidet die Studie nach nicht-nachgezuckerten Fruchtsäften und nachgezuckerten; letztere fallen in die Kategorie der Softdrinks.

Stufe 5: Der Bodensatz (die Kommentare)

Schritt für Schritt wurde aus der ursprünglichen Studie eine Story, deren Verhältnis zur eigentlichen Studie mit dem Hollywood-Slogan «based on true events» zu versehen ist. Was bleibt zuletzt bei den Leserinnen und Lesern hängen? Die Kommentarfunktion bei Tages-Anzeiger-Online erlaubt einen Einblick.

Die zwei beliebtesten Kommentare sind folgende:

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«Hab ich immer schon gewusst», garniert mit einer Portion verschwörungstheoretischen Duktus (grosse Firmen verdienen Geld mit «Chemokeulen»).

Es finden sich aber noch gehaltvollere Argumente:

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Die «Pharmlobby» will Medikamente verkaufen, und Menschen wird Diabetes «eingetrichtert»; Aspartam verursacht «nachweislich» (d.h.: nicht nachweislich) Krebs; und der Klassiker seit Anbeginn des Internets, «Ich weiss, wovon ich rede».

Fazit

Stille Post kann ein geselliges Spiel sein, zeigt es doch auf lustige Weise, wie beschränkt unsere Wahrnehmungs- und wie vielfältig unsere Selbsttäuschungsfähigkeiten sind. Weniger lustig ist es, wenn stille Post bei Wissenschaftskommunikation zur Anwendung kommt: In nur fünf Schritten ist eine wissenschaftliche Studie zu kruden Stammtischargumenten und Verschwörungstheorien degeneriert. Wer ist dafür verantwortlich? Ist überhaupt jemand verantwortlich?

In dieser Kommunikationskaskade mögen bei jedem Schritt die betroffenen Akteure leicht strategisch gehandelt haben. Die Nachrichtenagentur AFP hat möglicherweise die Meldung so formuliert, dass sie maximalen Absatz findet. Und die Kommentierenden hätten ihre teils antiwissenschaftlichen Meinungen wohl unabhängig des eigentlichen Inhaltes des Artikels kundgetan.

Dennoch sehe ich das Hauptversagen beim Tages-Anzeiger: Nicht nur wurde die Agenturmeldung inhaltlich nicht verbessert, sondern noch gezielt mittels Lead und Titel weg von den eigentlichen Inhalten der Studie verzerrt. Es ist diese Art des nach Sensationalismus gelüstenden Journalismus, der letztlich jene Form der uninformierten, zynischen Hauruck-Meinungen kultiviert, wie sie als Kommentare zu dem oben diskutierten Tages-Anzeiger-Artikel zu beobachten sind.

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One Comment on “Verursachen Light-Getränke Diabetes? Ein Beispiel für die «stille Post»-Kommunikationskaskade”

  1. ich beziehe mich nur auf den TA-Artikel – dort stand, dass der Konsum von 0.5-1 Liter Light-Getränk das Diabetes-Risiko erhöhe, was insofern spannend ist, als es viele Menschen gibt, die mindestens 0.5-3 Liter Light-Getränk pro TAG zu sich nehmen. 0.5-1 Liter pro Woche scheinen mir vollkommen vernachlässigbar (quasi homöopathische Dosen!), daraus eine Korrelation zu ziehen ist offensichtlich äusserst problematisch, wenn nicht sogar schlicht falsch. Leben Menschen, die Light-Produkte geniessen ungesünder? Bewegen sich weniger? Gehören einer anderen sozialen Schicht an? Wobei auch eine solche Korrelation bei 0.5 Liter pro Woche lächerlich erscheint, bei 1 Liter pro Tag aber zu einem genauso möglichen Ergebnis führen könnte: nicht das Light-Produkt ist das Problem, sondern es korreliert mit einem anderen Lebensstil, der das Problem ist…
    Wichtiger aber: mit solchen Studienergebnissen (so sie denn überhaupt offiziell so kommuniziert worden sind) macht sich die Wissenschaft lächerlich und verliert an Glaubwürdigkeit – und es gibt hunderte Beispiele solcher Korrelationsstudien, wo oftmals kurz darauf genau die gegenteilige Korrelation gefunden wurde… Wenn aber die eine Studie x „beweist“ und die nächste x „widerlegt“ – ist die Aussagekraft von wissenschaftlichen Studien gleich null. Ich erachte dies als ernsthaftes Problem, auf das mehr aufmerksam gemacht werden sollte – Wissenschaft ist eben nicht gleich Wissenschaft…

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