Quantenquark – Editorial

Philipp WehrliBlogLeave a Comment

Die Quantentheorie ist bekannt als die brillante Theorie, die niemand versteht. Daraus schliessen besonders Scharfsinnige, alles, was niemand verstehe, müsse irgendwie mit Quanten zusammenhängen. Ich will diese Perspektive einmal umdrehen. 

Quanten-Esoteriker kompensieren die mangelnde Wissenschaftlichkeit gerne mit farbigen Illustrationen zur Quantenheilung. Bildquelle: myquantumsuccess.com, ein Anbieter von Quantum Healing Retreats

Die Quantentheorie ist die am besten verstandene Theorie, die wir haben. Ihre Vorhersagen stimmen mit geradezu sagenhafter Präzision mit den Messungen überein. Die Quantentheorie hat zu technischen Anwendungen geführt, die davor als reine Magie bezeichnet worden wären: 

  • Sie ermöglicht Laser, mit denen Stahlplatten zerschnitten, Menschen operiert, Information übermittelt und Präzisionsmessungen durchgeführt werden können. 
    Sie führte zur Entdeckung des Transistors, eine der umwälzendsten Entdeckungen der Menschheitsgeschichte. Ein Transistor ist ein elektrischer Schalter auf Halbleiterbasis, der dank Quanteneffekten fast beliebig klein gebaut werden kann. ‚Fast beliebig klein’ heisst: Für Rechenoperationen, die ein Schulzimmer grosser Supercomputer von 1942 in einigen Stunden durchführte, benötigt ein heutiger Rechner wenige Sekunden. Und der heutige Rechner ist ein Mikroteilchen, das wir in eine menschliche Blutbahn schicken können.
  • Es waren  Quantenphysiker wie Erwin Schrödinger, Max Dellbrück und Francis Crick, welche die Grundlagen der Molekularbiologie und der Gentechnologie schufen. Schrödinger brachte in seinem Buch ‘Was ist Leben’ eine völlig neue Denkweise in die Biologie: Er erklärte, weshalb bei der Zellteilung Quanteneffekte eine entscheidende Rolle spielen müssen. Dies inspirierte Dellbrück, Watson, Crick und andere, Zellvorgänge auf der Ebene von Atomen und Molekülen zu untersuchen. Von Biologen wurden diese Versuche belächelt, weil man dachte, die Biologie sei dafür viel zu kompliziert. Watson und Crick wurden ‘die wissenschaftlichen Clowns’ genannt, noch kurz bevor sie den Aufbau der DNA-Doppelhelix entdeckten.
  • Damit wir so kleine Dinge überhaupt sehen können, brauchen wir die Quantentheorie gleich noch einmal. Mit dem von Gerd Binnig und Heinrich Rohrer vom IBM Forschungslaboratorium Zürich entwickelten Rastertunnel–Mikroskop, können wir heute buchstäblich einzelne Atome sehen. Und natürlich basiert dieses Gerät auf dem Quanten-Tunnel-Effekt.
  • Spezialisten können ein Molekül praktisch Atom für Atom zusammensetzen. Die Nanotechnologie und Nanomedizin sind weitere Gebiete mit heute noch kaum absehbaren Möglichkeiten.
  • Die Quantentheorie revolutionierte die Chemie, also z. B. die Herstellung von Farben, Lacken, Lebensmittelzusätzen oder Medikamenten. Sie spielt aber auch bei Oberflächen-Effekten eine Rolle, wenn eine Oberfläche z. B. wasserabstossend sein oder vor Rost schützen soll.
  • Im Grenzgebiet zwischen Physik und Chemie liegt auch die Supraleitertechnologie, die – richtig! – ebenfalls durch die Quantenphysik erst möglich wurde. Die Supraleitung wird heute vor allem in starken Elektromagneten verwendet, aber auch zur Messung feiner Magnetfelder z. B. des Herz- oder Gehirn-Magnetfeldes.
  • Noch gar nicht abzusehen sind die Auswirkungen der nächsten sich anbahnenden Revolution: In Quantencomputern kann ein einzelnes Atom in einem überlagerten Zustand unzählige Rechnungen gleichzeitig ausführen. Aufgaben, für die ein klassischer Computer mehrere Tage benötigt, können so mit wenigen Atomen in Minuten gelöst werden. Ein Quantencomputer knackt die üblichen Verschlüsselungen klassischer Computer in Sekundenschnelle. Zum Glück ermöglicht die Quantentheorie auch eine neue absolut perfekte Verschlüsselung

Die Spuren der Quantentheorie sind allgegenwärtig. Ein Physiker hat das mal so formuliert: „Wenn ein Ausserirdischer auf die Erde kommen und irgendein Zimmer eines bewohnten Hauses betreten würde, so würde er vermutlich herausfinden können, dass wir die Quantentheorie kennen.“ 

Wir wissen haargenau, was bei Quantenphänomenen passiert. Nichts können wir präziser beschreiben. Wie kommen Physiker dann dazu zu behaupten, die Quanten seien nicht verstanden? – Die Quantentheorie ist so präzise, dass wir nun gemerkt haben, wie unzulänglich unsere Alltagssprache ist. Wir verwenden im Alltag ständig Begriffe, von denen wir heute wissen, dass sie nicht wasserdicht sind. ‚Es existiert…’, ‚ich habe beobachtet’, ‚jetzt ist …’, ‚messen’ sind Begriffe, die mit der Präzision der Quantentheorie nicht mithalten können. Wenn wir solche Begriffe für Quantenphänomene benützen, machen wir unweigerlich Fehler.

Dies ist die Botschaft, welche die Quantenphysiker vermitteln wollen: „Achtung! Hier versagt der Alltagsverstand. Wenn wir Dinge sehr präzise beschreiben wollen, müssen wir auf Alltagsbegriffe verzichten und den mathematischen Formalismus anwenden.“

Wir wissen haargenau, wie wir mit dem mathematischen Formalismus die Quantenphänomene beschreiben können. Aber wir können den mathematischen Formalismus nicht in die Alltagssprache übersetzen. Welch absurde Vorstellungen sonst entstehen, zeigt nicht zuletzt das Beispiel von Schrödingers Katze, die zugleich lebt und tot ist. Jeder Physiker weiss grundsätzlich, wie diese Katze mathematisch beschrieben wird. Die sogenannte Dekohärenztheorie, die Dieter Zeh entwickelte, beschreibt in allen Details, was mit der Katze passiert, wer was beobachten kann und weshalb kein Mensch je eine Katze beobachtet, die tot und lebendig gleichzeitig ist. In all diesen Punkten herrscht Einigkeit unter den Physikern. Ein heftiger Streit tobt aber darum, wie Physiker über diesen Formalismus reden sollen, wenn sie die Alltagssprache verwenden. Die Alltagssprache taugt nicht dazu, über Quantenphänomene zu reden. Wer Quantenphänomene korrekt beschreiben will, benötigt den Formalismus.

Quanten-Esoteriker machen nun gerade das Umgekehrte. Sie kennen den Formalismus gar nicht. Sie kennen auch die Experimente nur vom Hörensagen. Sie kennen nur all die Ungereimtheiten, die auftauchen, wenn man die Alltagssprache verwendet, um Quantenphänomene zu beschreiben. Statt die Warnung zu hören, kondensieren sie die Ungereimtheiten und erweitern sie nach selbsterfundener Logik so, dass der Unsinn maximiert wird.

Kaum ein Esoteriker, der etwas auf sich hält, erwähnt nicht ab und zu die Quantentheorie und behauptet, sie beweise genau seine Behauptung. Bemerkenswert offenherzig –und wohl oft auch aus juristischem Kalkül- folgt oft die Anmerkung, diese Behauptungen würden von der offiziellen Physik ‚noch’ nicht akzeptiert. ‚Noch’ nicht akzeptiert, heisst aber: Die Behauptungen widersprechen der Quantentheorie. Sie beruhen eben gerade nicht auf dem vollkommen verstandenen Bereich, sondern es sind die Fehler, die jeder seriöse Forscher vermeiden soll.

Wir werden uns in der folgenden Zeit deshalb mit Quantenquark befassen, nämlich mit dem kondensierten Unsinn, der entsteht, wenn man die Warnungen ignoriert. Wie immer sind Kommentare, Ergänzungen und Kritik willkommen.

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